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Max v. Seydel, Bayerisches Staatsrecht. Auf der Grundlage der
2. Aufl. bearbeitet von v. GRASSMANN und PıLorTy. Tübingen, J. C.
B. Mohr 1913, 2 Bde. S. 935 u. 663.
Wer es unternimmt, das vorstehende Werk zu besprechen, muß mit
der Frage anheben, was war nötig, eine Neubearbeitung des SEYDELschen
oder eine Neubearbeitung des bayerischen Staatsıechts? Die Antwort vom
Standpunkte der Wissenschaft und der Praxis aus kann nicht zweifelhaft
sein. Was wir schon länger brauchten, war eine Darstellung der bayeri-
schen Staatsrechtsordnung nach dem neuesten Stande von Gesetzgebung,
praktischer Handhabung und wissenschaftlicher Erkenntnis, nicht ein Fest-
halten SEYDELscher Anschauungen, wenn sie durch die Entwicklung von
Theorie und Praxis überholt sind. Auch in der Wissenschaft muß das alte
Gute dem besseren Neuen weichen. Das alte Buch mußte möglichst mit den
neuen Ergebnissen der Lehre und des Lebens durchdrungen werden. Das
lag meines Erachtens auch im Sinne SEYDELs, der wohl gerne sagte, die
selbständigen Schüler sind die schlechtesten nicht. Zugleich meine ich,
würde ein solches Vorgehen auch der Bedeutung des SEYDELschen Werkes,
wie es uns der Meister hinterließ, gerecht. Die SrypEische Arbeit von
1896 ist ein Werk von klassischer Einheit und Geschlossenheit. Ein sol-
ches Werk wird am besten in der ursprünglichen Form bewahrt. Alle
Aenderung und Ergänzung, die notwendig mit Vorbehalten und Verwah-
rungen gegen die Anschauungen des Urhebers verbunden werden, bringen
in die Ruhe und Eindringlichkeit, die das Ursprüngliche auszeichnen, Stö-
rung und Abschwächung,
Man könnte glauben, die Bearbeiter der neuen Auflage seien von die-
sen Erwägungen geleitet gewesen, denn sie willigten darein, daß die bis-
her als selbständiges Werk erschienene Darstellung SEYDELs in ein großes
Sammelwerk aufgenommen wurde und zwar in eines, das sich öffentliches
Recht der „Gegenwart“ nennt. Allein in Wahrheit waren für GRASSMANN
und PıLory andere Gedankengänge bestimmend. Sie hielten es für ihre
Schüler- und Freundespflicht, nicht ein neues Werk über bayerisches Staats-
recht zu schreiben, sondern das Werk SEYDELS nur zu erneuern. Taten
sie das, dann war es selbstverständlich, daß sie bestrebt waren, Inhalt und
Form möglichst so zu belassen. wie sie von SEYDEL gestaltet waren. Das
entsprach dann auch den Anschauungen des Meisters. SEYDEL wäre der
erste gewesen, der eine tüchtige selbständige Bearbeitung des bayerischen
Staatsrechtes neben der seinigen freudig begrüßt hätte; aber ebenso gewiß
lag es im Wunsche SEYDELSs, daß, wenn einmal sein Werk erneuert wurde,
dies möglichst auch in’seinem Geiste geschah. Dann verlor es am wenigsten
von seiner Art.
Die Verfasser haben mit dieser Stellungnahme ein großes Opfer per-
sönlicher Ueberzeugung gebracht, das eigene Ich hinter dankbare Treue
zurückgestellt. Namentlich von demjenigen der zwei Bearbeiter ist diese