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Entsagung zu rühmen, der in dem freien selbständigen Beruf, in dem er
seit mehr als zwei Jahrzehnten steht, pflichtgemäß sich ein eigenes wissen-
schaftliches System gebildet hat und der gewohnt ist, auf dem Kampfplatz
der Wissenschaft mit schöpferischer Kraft seinen Mann zu stellen.
Wenn wir nach dieser Vorbemerkung der neuen Bearbeitung als solcher
näher treten, so ist selbstverständlich, daß die Erneuerung von den beiden
Bearbeitern in verschiedener Weise geschah. Beide stimmen darin überein,
daß sie den neuen Stoff vollständig und gründlich nachgetragen haben.
Aber nicht zu erwarten ist, daß sie in dem Maß des Bearbeitens des neuen
Stoffes gleichen Schritt halten. Der eine Verfasser steht in einem ganz
andersartigen Beruf, der ihm jeden Tag neue Aufgaben stellt und seine
volle Arbeitskraft in Anspruch nimmt. Wollte er seine Aufgabe erfüllen,
so mußte er Ueberstunden leisten und sich auf das Nötigste beschränken.
Von ihm konnte nicht gefordert werden, daß er die Ergebnisse der allge-
meinen Literatur des Staats- und Verwaltungsrechtes heranzog. Ihm durfte
gestattet sein, daß er nur von derjenigeu neuen Literatur Notiz nahm, die
sich speziell mit Bayern beschäftigte. Ein Mehr war von ihm um so we-
niger zu fordern, als es sich bei den ihm zugeteilten Materien des Buches
um die einzelnen Verwaltungszweige, also um Spezialrecht handelte. Da-
gegen wäre es unverständlich, wenn sich PırLorty auch auf diese Art der
Neubearbeitung beschränkt hätte. Von ihm konnte eine so weitgehende
Entsagung nicht erwartet werden. Er mußte Gelegenheit erhalten und
Gelegenheit nehmen, auch seine eigene wissenschaftliche Meinung wenig-
stens anmerkungsweise kundzugeben. So ist denn naturgemäß der erste
Teil umfangreicher geraten. Bei SEYDEL machte er dieHälfte, in der neuen
Auflage macht er drei Fünftel des Werkes aus. Es sei mir gestattet, den
Neuerungen, die das Werk an wissenschaftlichen Auffassungen bietet, in
einigen Richtungen nachzugehen.
Da ist zunächst das eine zu bemerken, daß sowohl der Bearbeiter des
ersten wie der des zweiten Teils —in den militärrechtlichen Partien ist dies
der Militäranwalt am bayerischen Senat in Berlin Enpres — diesen baye-
rischen Senat beim Reichsmilitärgericht staatsrechtlich gleich auffassen,
nämlich als eine bayerische Staatseinrichtung. Die Mitglieder des Senats
seien bayerische, nicht Reichsbeamte (I 388, II 624). M.E. besteht in dieser
Hinsicht eine verschiedene Auffassung der Reichs- und der bayerischen
Gesetze. Ich verweise darüber auf meinen Aufsatz im Recht 1900 Heft 16/17.
Interessant ist die Frage, ob das neue Beamiengesetz als solches, des-
sen rechtswissenschaftlichen Gehalt PILOTY in ausgezeichneter Weise syste-
matisiert hat, den Charakter eines Verfassungs- oder nur eines verfassungs-
ändernden Gesetzes hat. PILOTY spricht sich für ersteres, Kommentatoren,
Regierung und Praxis für das letztere aus (I S.676, 850). PıLoTY gelangt
zu seiner Ansicht dadurch, daß er auf die Frage der Verfassungseigenschaft
dem materiellen Verfassungsbegriff Einfluß gewährt. PıLoTY sagt, man
Archiv des öffentlichen Rechts. XXXII. 3/4. 40