Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 35 (35)

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leben darf. Nachdem das alte Dnieprreich Kiew dem doppelten Ansturm 
der Russen von Norden (1169) und der Tataren von Süden (1240) erlegen 
war, und die ukrainische Staatsidee auch in der Form des galizisch-wolhy- 
nischen Reiches keinen Bestand gewinnen konnte, sehen wir das Land 
mit Lithauen und Polen vereint unter der Hegemonie des letzten (Lubliner 
Union 1569), der sich aber die Ukrainer nur notgedrungen beugen. Schon 
1654 (es ist das Jahr des schwedisch-polnischen Erbfolgekrieges!) vollendet 
sich die Emanzipation von Polen nach einer Reihe von Aufständen in der 
Begründung der ukrainischen Republik (nach dem Inhaber der höchsten 
Militär- und Zivilgewalt auch „Hetmanat“ genannt). Aber auf eigenen 
Füßen konnte man in den damaligen osteuropäischen Konflikten nicht 
stehen; noch im selben Jahre schließt der Hetmann ein Bündnis mit den 
Moskowitern, das von den russischen Gelehrten irrtümlicherweise als „Ein- 
verleibung Kleinrußlands“ aufgefaßt wird, während Donzow den modernen 
Begriff der Realunion darauf angewandt wissen will (Perejaslawer Vertrag 
vom 17. 1. 1654). Statt einen Bundesgenossen zu bekommen, hatte man 
nur den Herrn gewechselt, und schon fünf Jahre später (Vertrag zu Ha- 
diatsch 1659) sucht man daher die eben aufgegebene Verbindung mit Polen 
wieder zu knüpfen, diesmal in der Form eines Trialismus (Königreich Polen, 
Großfürstentum Lithauen, Ruthenisches Großfürstentum). Es ist jenes Lavieren 
einer ans Licht drängenden Macht zwischen den schon am Platze befindlichen 
Kräftezentren, wie es uns gleichzeitig die Politik des Großen Kurfürsten 
gegenüber Polen und Schweden in den Verträgen von Labiau und Wehlau 
so anschaulich offenbart. . 
Aber während es diesem gelang, durch die wechselnde Bündnispolitik 
beider Gegner ledig zu werden (Frieden zu Oliva 1660), vereinigten sich 
Moskau und Polen gegenüber der Ukraine und teilten „das Land der ewigen 
Rebellen“ unter sich, wobei der Dniepr die Grenze wurde (Andrussower 
Vertrag 1667). Von hier an beginnt die absteigende Linie der Entwick- 
lung, wenn auch die Teile der Ukraine vorläufig noch eine gewisse selb- 
ständige Stellung behielten und im Bunde mit den Gegnern der Teilungs- 
mächte (Türkei und Karl XII. von Schweden!) diesen noch manche Sorge 
bereiteten. Die Schlacht von Poltawa (1709), die Peter den Großen von 
seinem gefährlichsten Gegner befreite, raubte der ukrainischen Bewegung 
den stärksten Freund. Die russische Großmachtspolitik dringt im 18. Jahrh. 
unaufhaltsam vor. 1764 erfolgt die Abschaffung des hetmanischen Regi- 
ments, 1781 die Aufhebung der Autonomie der Ukraine. Seitdem ist die 
Realisierung der ukrainischen Staatsidee in ein neues Stadium getreten. 
Von der äußeren politischen Bildfläche verschwunden, erscheinen die ukrai- 
nischen Forderungen bei Gelegenheit europäischer Verwicklungen, von denen 
sie zu profitieren suchen und begegnen in der Diplomatie der Nachbarstaaten 
wachsender Aufmerksamkeit, je mehr man dort die russische Gefahr er- 
kennt. Die Mission des ukrainischen Adelsmarschalls Grafen Kapnist iın
	        
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