Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 35 (35)

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April 1791 an den preußischen Hof mußte zwar noch scheitern, zu eng 
war dieser mit Petersburg namentlich in der polnischen Frage liiert; aber 
zur Zeit des Krimkrieges vertrat die Partei Bethmann-Hollweg doch schon 
von selbst mit dem Anschluß an die Westmächte gegen Rußland den Ge- 
danken einer unabhängigen Ukraine (Denkschrift BuNsEns vom 2. 3. 1854). 
Und schließlich hat sogar Bismarck, der damals die Projekte der Wochen- 
blattleute belächelte, mit ihrer Möglichkeit rechnen müssen. Donzow macht 
es sehr wahrscheinlich, daß die um die Jahreswende 1887 in der „Gegen- 
wart“ erschienenen Artikel HARTMANns, die die Errichtung eines „König- 
reichs Kiew“ im Stromgebiet des Dniepr und Pruth (neben der Lostrennung 
der Ostseeprovinzen, Finnlands und Lithauens) ins Auge faßten, vom Reichs- 
kanzler inspiriert waren. Hatte dieser doch um jene Zeit selbst „der 
Ueberzeugung sich nicht erwehren können, daß der Friede durch Rußland 
bedroht sei“, wobei der Gedanke nahelag, daß man diese stete Bedrohung 
durch den östlichen Koloß nur durch „bedeutende Gebietsabtrennungen“ 
in Zukunft werde verhüten können, wie das Bismarcks Sprachrohr näher 
ausführte. 
„Ein Traum von 1791, eine „kindische Utopie“ von 1854 und ein poli- 
tisches Bedürfnis von 1888, so war der Etappengang der ukrainischen 
Staatsidee in der politischen Welt Deutschlands.“ 
In unserem Jahrhundert machte sie dann weitere Fortschritte nament- 
lich infolge der russischen Revolution (1905) und der Einführung des all- 
gemeinen Wahlrechts in Oesterreich (1906). Die im Gefolge der ersteren 
notwendig gewordenen Reformen führten zu einer relativen Demokratisie- 
rung des öffentlichen Lebens, die in Südrußland sofort die Form einer 
Ukrainisierung annahm, da dort die breiten Volksschichten im Gegensatze 
zu dem größtenteils russifizierten oder polonisierten Adel die nationale 
Idee vertraten. Andrerseits gewann auch das ruthenische Element in Ga- 
lizien gegenüber der dort „herrschenden* Nation, den Polen, infolge der 
Wahlreform an Einfluß und Selbständigkeit, und die Konzessionen des 
Habsburgerstaates mußten wieder auf die russischen Ukrainer verlockend 
und anreizend wirken. Auf ihn waren jetzt die Hoffnungen des politisch 
enterbten Volkes gerichtet, und heute erwartet es von dem Siege der Oester- 
reicher und ihrer Bundesgenossen die endliche Erfüllung seiner Wünsche. 
Es mag dahingestellt bleiben, ob der gegenwärtige Krieg diese Er- 
füllung bringt, man hat sich in diesem Punkte skeptisch geäußert (DANIELs, 
Preußische Jahrbücher 1915 April), die „materiellen und ideellen Voraus- 
setzungen für eine Realisierung der ukrainischen Staatsidee“ sind jeden- 
falls gegeben, das setzt Donzow in einem Schlußabschnitt überzeugend 
auseinander. Das Gebiet der ukrainischen Nation — mit seinen 850 000 
Quadratkilometern größer als Deutschland — besitzt wirtschaftliche Ge- 
schlossenheit infolge seiner Fruchtbarkeit und eines Reichtums an Boden- 
schätzen, die es zum „Lebensnerv Rußlands* machen (vgl. die so betitelte
	        
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