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kennen, wie viel Neues und Lehrreiches wir schon aus den Berichten und
Untersuchungen LEVINs gewinnen; es ist zu hoffen, daß die Schrift ebenso
als Handbuch des Praktikers wie als Stoff-Sammlung und -Sichtung für den
Theoretiker und als Wegweiser für den Gesetzgeber Einfluß aller Art übt.
Eigentlich habe ich nur gegen ein Kapital im Ganzen Bedenken: die
grundsätzlichen Ausführungen über das Beweisrecht und das, was mit ihnen
in der Behandlung der Zeugenvernehmung unmittelbar zusammenhängt.
($$ 20, 24—26.) Dies gehört auch beim breitesten Begriff der richterlichen
Prozeßleitung kaum herein. Gerade bei einer so fest geschlossenen, die
wechselseitigen Beziehungen der verschiedenen richterlichen Funktionen so
klar aufdeckenden und sicher bewertenden Darstellung, wie wir sie in
Levıns Schrift haben, füllt es besonders auf, wenn ein Stück nicht völlig
durchgearbeitet und im Ganzen aufgegangen ist. Das war nun beim Be-
weisrecht gar nicht anders möglich; diese Materie, an der sich viele unserer
besten juristischen Denker ohne glückliche Lösung in konzentrierter Be-
trachtung versucht haben, spottet der Einordnung in die Systeme des
Privatrechts und des Prozesses gleichermaßen und läßt sich vollends nicht
in einer Monographie über die richterliche Prozeßleitung erledigen.
(Uebrigens ist gerade in diesem Punkt der Vergleich mit dem englischen
Verfahren wirklich lehrreich, das in manchen Stücken dem Richter viel
freiere Bewegung und stärkeres äußeres Ansehen gibt als unser Prozeß,
dafür aber den Beweis im ärgsten Formalismus stecken läßt. Levın hat
den Ausführungen von BENTHAM, der überall ein unerträglicher Salbaderer
bleibt, zu viel Bedeutung geschenkt.) Und was dann die Zeugenvernehmung
selbst anlangt, so ist nach meinem Ermessen und meiner Erfahrung jede
lehrhafte Ausarbeitung eines Schemas der „guten“ Vernehmung ein nicht
nur aussichtsloses, sondern oft auch sehr gefährliches Beginnen. LEVIN
hat selbst ganz zutreffend vor dem Dogmatisieren gewarnt, das sich im
Anschluß an die „wissenschaftliche® Psychologie der experimentierenden
Seminarleiter einzustellen pflegt („daß... der Versuch, aus der ungeheuren
Fülle des Materials gewisse leitende Grundsätze für die richterliche Prozeß-
leitung zu entwickeln, als aussichtslos aufgegeben werden müßte“ S. 178),
aber er läßt. doch die wünschenswerfe Enntschiedenheit der Abwehr ver-
missen, die für die Juristen nachgerade gegenüber den Prätensionen der
experimentellen Psychologen zur ernsten Pflicht wird. Dadurch, daß man
die einfache Erfahrungsweisheit mit den Kunstausdrücken der jüngsten
philosophischen Modeschule kostümiert, Wahrnehmungsfunktionen, primäre
und sekundäre Aussage und dergleichen Wortgeklingel mehr über die na-
türlichen Schwierigkeiten der Beurteilung einer Aussage ergiekt, wird
keines Menschen Erinnerung zuverlässiger, kein Schwätzer weniger konfus
und kein Lügner zum Bekenner der Wahrheit. Es gibt da allerdings eine
sehr dringende Arbeit, um die man sich mit dem groben Unfug der ex-
perimentellen Psychologie herumzureden trachtet, nämlich die Erziehung