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schichte mit einem bestimmten Zielpunkt“, von der Urzeit bis zu den
neueren Jahrhunderten angetreten werden; der bestimmte Zielpunkt ist
der Nachweis der Staatlichkeit der mittelalterlichen Verfassung — das
Staatliche insbesondere im Gegensatz zum Patrimonialen gedacht —, über-
haupt der Nachweis dafür, daß die BELowsche Konstruktion der deutschen
Verfassung richtig ist. Insofern ist allerdings der Titel für den, der ihn
im gewöhnlichen Sprachsinn nähme, ein wenig irreführend, und zwar ist
er das gleichmäßig in seinem ersten und zweiten Satz; es wird nicht so-
wohl der deutsche Staat des Mittelalters behandelt als die Frage, ob man
in der deutschen Verfassung des Mittelalters nach ihrem Gesamtwesen und
nach ihren Einzeleinrichtungen den Staatsbegriff der neuern Theorie ver-
wirklicht finden kann, wenn man eifrig und mit dem rechten Schulglauben
darnach sucht; es wird nicht sowohl ein Grundriß der deutschen Verfas-
sungsgeschichte gegeben, als ein Grundriß der deutschen Staatsrechtsliteratur
von HALLER bis zum Erscheinen des BELowschen Werks selbst. In den
„Nachträgen* hat BELOw zum Schluß auf ein Spiel des Zufalls hingewiesen,
in dem doch wohl ein tieferer Sinn gefunden werden soll: das Vorwort zu
SOHMs Werk über die Fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung („welches
Werk den stärksten Vorstoß in der Richtung bedeutet, in der sich meine
Darlegungen bewegen‘) ist vom 31. Januar 1871 datiert, das Vorwort zu
BeLows Werk aber vom 31. Januar 1914, eine merkwürdige Fügung, die
sich noch eindringlicher kundgibt, wenn man dazu nimmt, daß SoHMm da-
mals Professor in Freiburg war wie es BELOw jetzt ist, und zum gleichen
Datum auch der gleiche Ort tritt. Wäre der Gegenstand des Werks von
so ungeheurer Größe, wie die deutsche Verfassung in den ersten achthun-
dert Jahren ihres erkennbaren Daseins für einen Deutschen von heute er-
scheinen muß, so erschiene im Vergleich dazu jene Erinnerung des Ver-
fassers vielleicht nicht bedeutend genug, um den ganzen Band zu be-
schließen. Aber sie rückt durchaus an den rechten Platz, wenn man den
literargeschichtlichen Inhalt des Bandes bedenkt und inne wird, wie sehr
statt längst abgeschlossener und abgestorbener Gegenstände und Ver-
hältnisse hier die neuere und neueste Entwicklung der Auffassung und
Darlegungsweise jener Gegenstände, und oft der allerlebendigste Schulstreit
der Gelehrten von heute abgehandelt wird. Denn natürlich bringt es die
Betrachtung, die beständig das eigene Ergebnis mit den Ergebnissen an-
derer vergleicht und kontrastiert, mit sich, daß auch die Polemik würziger
gerät, als es bei der Auseinandersetzung zwischen einem Gelehrten von
heute und einem deutschen Kaiser oder Staatskanzler des früheren Mittel-
alters unter vier Augen möglich wäre. Die verschiedenen rechtlichen
Triebe und Beharrungsgründe, die in der deutschen Verfassung nebenein-
ander und auch gegeneinander gewirkt haben, das eigentliche Patrimo-
niale, das imperialistische oder Cäsaropapistische, das Sozialistische, Wirt-
schaftlich-Genossenschaftliche und einiges andere mehr werden bei dieser