Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 35 (35)

— 286 — 
V. Aber auch mit dem unfertigen Gesetz, mit dem un- 
fertigen Rechtssatz a priori, mit dem nicht vollständig er- 
klärten Willen des Staates zu handeln und zu exequieren, muß 
sich die Gesetzesstaatstheorie abfinden, um nicht reale Gebilde 
aus dem Rahmen ihrer Betrachtungen ausschließen zu müssen. 
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Blankettgesetze sowie 
Gesetze mit Ermessensdelegation ® der Forderung, die man an ein 
Rechtsmaß vom logisch-formalen oder wie man ihn auch nennt 
vom juristischen Gesichtspunkt aus stellen muß, so wenig 
entsprechen als ein Testament, in dem der Testator die letztwilligen 
Verfügungen einem andern überläßt. Die Ermessensdelegation er- 
innert an den in einem Bozschen Roman vorgeführten einfältigen 
schusses nicht angesehen werden, wenn in der Neujahrsnummer der Neuen 
Freien Presse (1915) ein anonymer hoher Richter erklärte, die Regierung 
sei zu vorsorglichen Anordnungen verpflichtet, die Gerichte hätten 
dennoch diese Anordnungen als Verfassungsbruch zu erklären, der 
wieder funktionsfähig gewordene Landtag ihn zu indemnisieren. Das 
ist einerseits keine gesetzesstaatliche Lösung, weil die österr. Verfassung 
eine solche staatliche Indemnisierung nicht kennt. Der Vorschlag ist aber 
auch widerspruchsvoll, weil was Verpflichtung ist, nicht Rechtsbruch 
sein kann. Er ist endlich geradezu abstoßend, weil er der Regierung zu- 
mutet, sich für den Zweck eines Verfassungsbruchs zu prostituieren und 
dem Richter die bequeme Rolle zuweist, was geschehen muß, als Ver- 
fassungsfelonie zu stigmatisieren. Nicht viel besser war die Konstruktion 
BERNATZIKS in der Weihnachtsnummer (1914) derselben Zeitschrift, daß 
eine Ueberprüfung der vom Kaiser einseitig getroffenen Fürsorgemaßnah- 
men durch die Gerichte entbehrlich sei, da diese Maßnahmen sich selbst 
als außer der Verfassung stehend erklärt hätten. Die Gerichte hätten 
darum die getroffenen Maßnahmen zu respektieren und das Weitere dem 
Staatsgerichtshof zu überlassen. Die Verfassung enthält aber nirgends den 
absurden Satz, daß verfassungswidrige Anordnungen durch die Gerichte 
anzuerkennen seien, wenn die Verfassungswidrigkeit von dem Urheber zu- 
gegeben sei. Sehr vernünftig hat der Verwaltungsgerichtshof aus der Not- 
wendigkeit gesetzgeberischer Fürsorge für die finanzielle Landesverwaltung 
und aus dem monarchischen Prinzip gefolgert, daß Fürsorgemaßnahmen 
des Kaisers für den Fall der Lähmung der übrigen Landesorgane nicht ver- 
fassungswidrig, vielmehr gerichtsverbindlich seien. 
6 KELSEN a. &. 0. S. 289, 506 f.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.