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V. Aber auch mit dem unfertigen Gesetz, mit dem un-
fertigen Rechtssatz a priori, mit dem nicht vollständig er-
klärten Willen des Staates zu handeln und zu exequieren, muß
sich die Gesetzesstaatstheorie abfinden, um nicht reale Gebilde
aus dem Rahmen ihrer Betrachtungen ausschließen zu müssen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß Blankettgesetze sowie
Gesetze mit Ermessensdelegation ® der Forderung, die man an ein
Rechtsmaß vom logisch-formalen oder wie man ihn auch nennt
vom juristischen Gesichtspunkt aus stellen muß, so wenig
entsprechen als ein Testament, in dem der Testator die letztwilligen
Verfügungen einem andern überläßt. Die Ermessensdelegation er-
innert an den in einem Bozschen Roman vorgeführten einfältigen
schusses nicht angesehen werden, wenn in der Neujahrsnummer der Neuen
Freien Presse (1915) ein anonymer hoher Richter erklärte, die Regierung
sei zu vorsorglichen Anordnungen verpflichtet, die Gerichte hätten
dennoch diese Anordnungen als Verfassungsbruch zu erklären, der
wieder funktionsfähig gewordene Landtag ihn zu indemnisieren. Das
ist einerseits keine gesetzesstaatliche Lösung, weil die österr. Verfassung
eine solche staatliche Indemnisierung nicht kennt. Der Vorschlag ist aber
auch widerspruchsvoll, weil was Verpflichtung ist, nicht Rechtsbruch
sein kann. Er ist endlich geradezu abstoßend, weil er der Regierung zu-
mutet, sich für den Zweck eines Verfassungsbruchs zu prostituieren und
dem Richter die bequeme Rolle zuweist, was geschehen muß, als Ver-
fassungsfelonie zu stigmatisieren. Nicht viel besser war die Konstruktion
BERNATZIKS in der Weihnachtsnummer (1914) derselben Zeitschrift, daß
eine Ueberprüfung der vom Kaiser einseitig getroffenen Fürsorgemaßnah-
men durch die Gerichte entbehrlich sei, da diese Maßnahmen sich selbst
als außer der Verfassung stehend erklärt hätten. Die Gerichte hätten
darum die getroffenen Maßnahmen zu respektieren und das Weitere dem
Staatsgerichtshof zu überlassen. Die Verfassung enthält aber nirgends den
absurden Satz, daß verfassungswidrige Anordnungen durch die Gerichte
anzuerkennen seien, wenn die Verfassungswidrigkeit von dem Urheber zu-
gegeben sei. Sehr vernünftig hat der Verwaltungsgerichtshof aus der Not-
wendigkeit gesetzgeberischer Fürsorge für die finanzielle Landesverwaltung
und aus dem monarchischen Prinzip gefolgert, daß Fürsorgemaßnahmen
des Kaisers für den Fall der Lähmung der übrigen Landesorgane nicht ver-
fassungswidrig, vielmehr gerichtsverbindlich seien.
6 KELSEN a. &. 0. S. 289, 506 f.