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Das Gesetz wird, wo es wie das Privatrecht die Auslegungs-
delegation unddieRechtskraft einführt, ein Gegenstück
des Kronos, von seinen eigenen Kindern verzehrt. Das
Gesetz ratifiziert und authentifiziert das im Vorhinein. Auslegung
und Rechtskraft treten aber usurpatorisch mit gesetzesverzehrender
Wirkung auch dort auf den Plan, wo sie vom Gesetz nicht aner-
kannt sind, wie auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts. Mit
vollem Recht lenkt neuestens SPIEGEL im Hinblick auf die Kon-
troverse über die freie Rechtsfindung die Aufmerksamkeit auf die
sattsam bekannte Tatsache, daß sich nie bestimmen lasse, welche
Gestalt ein zur Diskussion gestelltes neues Gesetz durch die Pra-
xis bekommen, ob nicht ihre umgestaltende, Berge versetzende
Wirkung die Kritik zum Schweigen bringen werde. Keine noch
so scharfsinnige Theorie kommt über die Tatsache hinweg, daß
der aktuelle Fall sein Gesetz vom Spruch erhält, und daß im
Gegensatze zum potentiellen Recht des Gesetzes der Rechtssatz
des Spruches das virtuelle, lebende Recht enthält, und nur dieses
das lebende Recht ist. Die auctoritas rei judicatae ist höher als
die auctoritas legis.
VII. So stellt sich für die empirische und für die politisch-
praktische Betrachtung das Recht als ein Sein und nicht als
lediglich Seinsollendes dar. Geltung ist ihm so wesentlich als
dem Geld. Der Rückschluß aus dem Handeln oder Exe-
quieren des Staates auf den Inhalt dieses Willens
oder auf das Recht ist sicherer als der von jenen
formalen Regelungen, die Verfassung und Wissen-
schaft als Gesetz oder Rechtssatz erklären. Geltendes
oder geübtes Recht ist Recht, auch wenn es nicht mittels eines
Syllogismus auf einen schon im Vorhinein und durch förmliches
Gesetz aufgestellten Rechtssatz zurückgeführt werden kann und
auch wenn es nicht die von der Wissenschaft aufgestellten Kri-
terien des Gewohnheitsrechts an sich trägt, wobei ganz davon ab-
gesehen wird, daß auch die Kriterien des Gewohnheits-