Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 35 (35)

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Das Gesetz wird, wo es wie das Privatrecht die Auslegungs- 
delegation unddieRechtskraft einführt, ein Gegenstück 
des Kronos, von seinen eigenen Kindern verzehrt. Das 
Gesetz ratifiziert und authentifiziert das im Vorhinein. Auslegung 
und Rechtskraft treten aber usurpatorisch mit gesetzesverzehrender 
Wirkung auch dort auf den Plan, wo sie vom Gesetz nicht aner- 
kannt sind, wie auf dem Gebiete des Verwaltungsrechts. Mit 
vollem Recht lenkt neuestens SPIEGEL im Hinblick auf die Kon- 
troverse über die freie Rechtsfindung die Aufmerksamkeit auf die 
sattsam bekannte Tatsache, daß sich nie bestimmen lasse, welche 
Gestalt ein zur Diskussion gestelltes neues Gesetz durch die Pra- 
xis bekommen, ob nicht ihre umgestaltende, Berge versetzende 
Wirkung die Kritik zum Schweigen bringen werde. Keine noch 
so scharfsinnige Theorie kommt über die Tatsache hinweg, daß 
der aktuelle Fall sein Gesetz vom Spruch erhält, und daß im 
Gegensatze zum potentiellen Recht des Gesetzes der Rechtssatz 
des Spruches das virtuelle, lebende Recht enthält, und nur dieses 
das lebende Recht ist. Die auctoritas rei judicatae ist höher als 
die auctoritas legis. 
VII. So stellt sich für die empirische und für die politisch- 
praktische Betrachtung das Recht als ein Sein und nicht als 
lediglich Seinsollendes dar. Geltung ist ihm so wesentlich als 
dem Geld. Der Rückschluß aus dem Handeln oder Exe- 
quieren des Staates auf den Inhalt dieses Willens 
oder auf das Recht ist sicherer als der von jenen 
formalen Regelungen, die Verfassung und Wissen- 
schaft als Gesetz oder Rechtssatz erklären. Geltendes 
oder geübtes Recht ist Recht, auch wenn es nicht mittels eines 
Syllogismus auf einen schon im Vorhinein und durch förmliches 
Gesetz aufgestellten Rechtssatz zurückgeführt werden kann und 
auch wenn es nicht die von der Wissenschaft aufgestellten Kri- 
terien des Gewohnheitsrechts an sich trägt, wobei ganz davon ab- 
gesehen wird, daß auch die Kriterien des Gewohnheits-
	        
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