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wieder die Uebertragung seiner Lösung auch dort, wo keine
Normen hiefür bestehen, an einen Verfassungsgerichtshof
empfiehlt!®, der doch nur als Schiedsgericht mit Normen a posteriori
fungieren könnte. Diese auf die Gesetzesstaatstheorie zurückzu-
führende Insolvenzerklärung der Rechtswissenschaft findet ihr
eigenartiges Gegenstück in der Preisgebung des (Gesetzes- und
Verfassungsstaates durch die Anerkennung der in verfassungs-
widrigen Formen sich vollziehenden Verfassungswandlungen °".
X. Wenn uns so die Erfahrung Normen zeigt, die von der
formalen Jurisprudenz als solche des Staates erklärt werden, und
nach denen, trotzdem sie nicht aufgehoben wurden, der
Staat nicht handelt und nicht exequiert, dann aber wieder Han-
deln und Exequieren, das die formale Jurisprudenz als solches des
Staates anerkennt, trotzdem es nicht Handeln und Exeguieren nach
vorher aufgestellten Normen ist, so wird hiedurch das Ergeb-
nis der erkenntnistheoretischen Betrachtung in sein Gegenteil
verkehrt und nimmt gegenüber der Erfahrung den Charakter einer
politischen Forderung an, wie dies denn in der Tat von dem
auf der Gesetzesstaatstheorie aufgebauten System des konstitutio-
nellen Staates gilt. Der politische Charakter dieser Forderung
wird dadurch nicht berührt, daß sie zugleich als logische, aus dem
Wesen des Rechts folgende hingestellt wird. Praktisch scheitert
diese Forderung an dem physischen, durch besondere politische
Verhältnisse noch gesteigerten Unvermögen ?!, auch nur zu dem
Gegenwärtigen und Bekannten, geschweige denn zu dem zukünf-
tigen Unbekannten mittels bereitstehender Normen Stellung zu
nehmen und an der Unzulänglichkeit der Sprache für eine getreue
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19 GEORG JELLINEK, Gesetz und Verordnung (1887) S. 309.
20 }EORG JELLINEK, Verfassungsänderung und Verfassungswandlung
(1906); der bei WALTER JELLINEK a. a. O. S. 186 angeführten Literatur
ist beizufügen T#zwer, Wandlungen der österreichisch-ungarischen Reichs-
idee (1905).
21 Dies gilt ganz besonders von der konstitutionellen Gesetzgebung
Oesterreichs.