— 342 —
Die Entstehung der belgischen Neutralität ist eng verknüpft mit der
politischen Geschichte dieses Staats und diese wiederum mit der geographi-
schen Lage, der wirtschaftlichen und militärischen Bedeutung des Landes.
Auf die letztgenannten Faktoren gründet sich das wechselnde und wett-
eifernde Interesse der großen europäischen Mächtegruppen. Freilich nicht
in dem Sinne, daß irgend einer dieser Staaten das belgische Gebiet seinem
Territorium unbedingt hätte einverleiben müssen, vielmehr war es von je-
her in erster Linie der politische, militärische und wirtschaftliche Ein-
fluß, um den die hieran interessierten Mächte buhlten. Ihr Interesse
gipfelte in der Vorsorge, für den Fall eines Krieges mit den Rivalenstaaten
ein Gebiet zu besitzen, das ihr eigenes Land von den Schäden und Gefahren
möglichst entlastete, zugleich ihnen aber eine wirksame Unterstützung
brachte. Diese Momente kennzeichnen die erste Entwicklungssphase der
politischen Geschichte Belgiens. Auf ihnen fußt das sog. ältere Barriere-
system.
Dies erwies sich, wie die weitere Entwicklung zeigt, als unzulänglich:
es steuerte ebensowenig dem Neide der anderen Mächte, wie die vorüber-
gehende Vereinigung Belgiens und Hollands; es gewährte jeweils nur einem
der interessierten Staaten weitgehende militärische Rechte.
Man griff also zu dem anderen Extrem: den belgischen Staat aus den
drohenden kriegerischen Konflikten der europäischen Staaten überhaupt
auszuschalten, man schritt zur Neutralisierung.
Hierdurch wird die letzte, gegenwärtig ungleich wichtigere Epoche der
belgischen politischen Geschichte gekennzeichnet. Wie wenig man aber
mit der Neutralisierung erreichte, hat der Weltkrieg erschreckend deutlich
gezeigt. Ein anderes Ergebnis war auch kaum zu erwarten. Man bannte
mit der Neutralisierung das wetteifernde Bestreben der europäischen Staaten,
sich Belgien dienst- und nutzbar zu machen, keineswegs. Man verschlim-
merte die Situation nur insofern, als die mit der Neutralisation notwendig
verbundene Beschränkung des neutralisierten Staats in diesem selbst oppo-
sitionelle Kräfte wecken mußte, die zu einer Expansion drängten. Die un-
heilvollen Keime für das Schicksal Belgiens lagen also in seiner Neutrali-
sierung.
Hieraus entsprangen die gequälten Bemühungen der belgischen Poli-
tiker, Militärs und Juristen, Wege zu finden, auf denen man freilich die
drückende Neutralitätspflicht nicht offenbar zu brechen brauche, durch die
man aber immerhin sich einige Bewegungsfreiheit schuf. Man begann also
Konstruktionen aufzustellen, die für die Neutralität zwischen Zeiten des
Krieges und solchen des Friedens unterschieden, für die letztere aber jeg-
liche politische und staatsrechtliche Beschränkung der Handlungsfreiheit
leugneten, Damit erschloß man sich wieder die Mitwirkung bei der Ge-
staltung und Erhaltung des europäischen Konzerts. England und Frank-