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apodiktischer Lehrsatz: „res iudicata pro veritate habetur“, sofern
damit eine quaestio veritatis auch den nicht am Rechtsstreit Be-
teiligten abgeschnitten werden soll, ist zu streichen. Daß andern-
falls die Sentenz zur Satzung würde, hat O. FISCHER * treffend
betont. Daher ist die Frage, ob es unrichtige Urteilssprüche ge-
ben kann, da die „Gerichtskraft“ nur die Bedeutung eines Dienst-
befehls hat °°, nicht nur zulässig, sondern auch geboten, da jedes
Staatsorgan nach Kräften das gebeugte Recht wieder aufzurich-
ten hat.
Sie ist aber insbesondere zulässig für die Entscheidungen des
Vormundschaftsgerichts; denn hier gibt es, wie auch anderswo im
Gebiete der freiw. Gerbk., keine materielle Rechtskraft im Sinne
der spezifischen Urteilswirkung als der „Unbestreitbarkeit der
Feststellung über den vorhandenen Rechtszustand unter den Par-
32; ähnlich OETKEr, Grundbegriffe I S .22, dem zufolge das Interesse der
Rechtssicherheit es erforderlich macht, die etwaige Diskrepanz von Urteil
und materiellem Recht zu ignorieren.
5: 0). FISCHER in IHERINGs Jahrbüchern Bd. 40 (1899) S. 241; „Man
käme sonst zur absoluten Wirkung des Urteils für und gegen jedermann“;
mit FISCHER alle, die wie HELLWIG und GOLDSCHMIDT dem Leistungs- und
Feststellungsurteil nur rechtsanerkennende, nicht rechtsbegründende Natur
zuschreiben und die Rechtskraft subjektiv auf die Partei und ihre Rechts-
nachfolger ($ 325 ZPO.) begrenzen: HeLLıwiG, Lehrb. II S. 40 N. 13 und
Heıtwwiıa, Rechtskraft S. 12 N. 31; W. JELLINEK S. 53.
55 J. GOLDSCHMIDT, Ungerechtfertigter Vollstreckungsbetrieb (FISCHERS
Abhandlungen XX, Heft 3. München 1910), S.42: „Die unbedingte Wirkung
der materiellen Rechtskraft (Gerichtskraft) eines Urteils bedeutet den bin-
denden Dienstbefehl an den Richter des zweiten Prozesses, den festgestellten
Rechtszustand seiner Entscheidung zugrunde zu legen.“ Dagegen herrscht
bei den Altmeistern der Staatsrechtsliteratur die Ansicht vor, daß die ma-
terielle Rechtskraft des Zivilurteils nicht nur die Prozeßparteien und die
Prozeßgerichte, sondern sämtliche Organe der öffentlichen Gewalt über-
haupt an den Ausspruch bindet: LABAND, Staatsrecht Bd. III, 5. Aufl. (1913)
S. 876 ff, O. MAYER, VerwaltungsR. Bd. 1 (1914) S. 175, N. 28, S. 196/7,
OETKER, Grundbegriffe S. 22: „Das Urteil wird getragen durch die eigene
Schwere, tritt den Parteien mit der Verbindungskraft des Gesetzes gegen-
über.“ KUTTNER, Ueber Urteilswirkungen und Genehmigung des Vormund-
schaftsgerichts, besonders im römischen Recht. Festschr. für v. MARTITZ
(1911), 8. 243/273.