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und Aspirationen verwirklicht hat, die Schlüsse auf die notwendig sich
ergebenden Konflikte gezogen.
Da ist zunächst die Geopolitik: Sie verlangt von einer wirklichen
Großmacht entsprechende Ausdehnung, volle Bewegungsfreiheit und inneren
Zusammenhalt. Keiner der drei Konkurrenten kann sich der Verwirk-
lichung dieser Bedingungen erfreuen. Rußland bemüht sich um die zweite,
seit es im Lichte der europäischen Geschichte steht, in seinem Streben,
zum Weltmeere einen freien Zugang zu finden, England war zu Beginn des
Krieges bestrebt, sein großes Kolonialreich um den indischen Ozean herum
zu einer Einheit zusammenzuschließen, vor alleın durch die Sicherung der
Linie: Kairo-Kalkutta. Am ungünstigsten war Deutschland daran: Ihm
fehlte es — als planetarische Macht gesehen — an allen drei Bedingungen.
Sein Einflußgebiet blieb an Umfang weit hinter dem der anderen, sogar
auch Frankreichs, zurück, ferner lastete auf seinen Grenzen wie nirgend
sonst ein konzentrischer Druck, es war dabeı fast ebenso wie Rußland vom
Weltmeer abgeschlossen, endlich fehlt ibm aber auch der innere Zusam-
menhalt zwischen Mutterland und Kolonien wie unter diesen selbst. Es
gibt ein Mittel, all diesen Uebeln mit einem Schlage abzuhelfen, das ist
das von Kj. so genannte Programm: „Elbe-Aequator‘, gewissermaßen eine
Fortsetzung der nunmehr schon weiten Kreisen in Fleisch und Blut über-
gegangenen Verbindung: Berlin-Bagdad. Brachte diese letztere uns die
Befreiung aus der Umklammerung und dem föderierten Zentraleuropa der
Zukunft die erste erforderliche Ausdehnung, so würde durch Rückfall
Aegyptens an die Türkei und Umwandlung des Sudans in „eine Südmark
für unseren neuen Staatenbund“ (F. KÖHLER, Der neue Dreibund) die „Land-
brücke zwischen der Levante und Zentralafrika“ und damit der Zusammen-
hang zwischen dem Deutschen Reich und seinen Kolonien gewonnen wer-
den. Aber auf diesem Wege stößt der deutsche Großmachtswille auf den
Willen Rußlands an den Dardanellen und Englands am Suezkanal. Dieser
letztere Gegensatz war „vor dem Kriege noch gebunden, er schlummerte
in den objektiven Möglichkeiten der Karte“, der andere „war schon von
Anfang an lebendig. Da Rußland unbedingt nach Konstantinopel wollte
und Deutschland sich dem unbedingt widersetzte, war der Weltfriede nicht
mehr zu retten.“
Die Ethnopolitik fragt zunächst nach der Verwirklichung des
Nationalitätsprinzipes. Bei den Verstößen gegen dieses unterscheidet Kj.
drei Typen: 1. Die Nation besitzt Einheit, aber keine staatliche Freiheit
(z. B. Tschechen, Irländer, Letten). 2. Die Nation hat (teilweise) Freiheit,
aber keine Einheit, d. h. der Staat erblickt Teile der Nation in der Gewalt
anderer Staaten. 3. Die Nation entbehrt sowohl der Einheit als auch der
Freiheit, indem sie ganz unter der Gewalt verschiedener Staaten steht.
Dem Irredentaproblem, wie es der zweite Typus veranschaulicht, hatte Kj.
schon in seinem früheren Buche erhöhte Aufmerksamkeit geschenkt. Wäh-