Full text: Archiv für öffentliches Recht. Band 38 (38)

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aus dem gesamten Prozeßstoffe ein einheitliches Bild zu machen. Gewiß 
wird man die Beweislasttheorie nicht entbehren können, aber man sollte, 
wie zum Messer des Chirurgen, nur in schweren Fällen darnach greifen 
müssen. Bei Abschaffung des Eides wird der Richter sich klar machen 
müssen, daß nunmehr alles von seiner Wahrnehmungs- und Schlußfolge- 
rungskraft abhängt, daß nun in wahrem Sinne der Tag der freien Beweis- 
würdigung für ihn angebrochen, jede fremde Krücke weggefallen ist. 
Der Richter kann sich nun voll und ganz auf das eigene gesunde Urteil 
verlassen; er wird nun auch Umstände beachten lernen, die früher gegen- 
über der Gewichtigkeit des Eides in den Hintergrund traten; er kommt 
mehr mit dem wirklichen Leben in Berührung und schärft seinen Blick. 
Dabei wird die Parteibefragung gute Dienste leisten, aber eine Befragung 
ohne Strafzwang. Gerade in der Unbefangenheit, mit welcher die Partei 
vor dem Richter reden darf, liegt für diesen der Nutzen. Mit dem 
Parteieid muß natürlich auch der Zeugeneid fallen; immerhin wird man 
hier eine Wahrheitspflicht aufstellen müssen, deren Verletzung unter 
Strafe steht. 
Treffend sind die Ausführungen WAchHs über das Verhältnis der Münd- 
lichkeit zur Schriftlichkeit. Ob das eine oder andere Prinzip besteht, ent- 
scheidet sich nicht danach, ob nur gesprochen oder nur geschrieben wird, 
sondern danach, was als Grundlage des Urteils dient, der Akteninhalt oder 
das vom erkennenden Richter Wahrgenommene. Das Schriftprinzip ist die 
Erstarrung und Verkünstelung, die Unnatur; die Mündlichkeit ist das Le- 
ben, die Beweglichkeit, die Anpassungsfähigkeit, die Wahrheit. Damit wird 
nicht verkannt die Nützlichkeit der Schrift zur Vorbereitung, Beurkundung 
und Bildung der Urteilsgrundlage. Das Prinzip der Mündlichkeit verlangt 
auch nicht, daß Beweisurkunden verlesen werden müssen, daß für den ge- 
samten Inhalt umfangreicher Rechnungen, Inventarien u. dgl. der mündliche 
Vortrag gefordert wird. WacH lehnt vorbehaltlos alle Reformpläne, die 
eine Umbildung des Prozesses zuguusten der Schriftlichkeit verfolgen, ab. 
Man dürfe sich vom Boden des mündlichen Verfahrens nicht abdrängen 
lassen; von ihm aus sei die Beseitigung vorhandener Uebelstände zu er- 
streben. Fortbildung nicht Neu- oder Umbildung, Evolution nicht Revo- 
lution. Eine abzulehnende Einschränkung der Mündlichkeit und Unmittel- 
barkeit sieht WAcH auch in dem Vorschlage eines vorbereitenden Verfah- 
rens vor beauftragtem Richter. 
Von den Reformvorschlägen WAcHs ist jedenfalls der bedeutendste 
derjenige der Einführung eines Vortermins. Schon in seiner 1886 erschie- 
nenen Streitschrift, Die Zivilprozeßordnung und die Praxis, wurde dieser 
Vortermin empfohlen, dessen Zweck ein dreifacher ist: die glatten Sachen 
möglichst unverzüglich zu beenden, Gelegenheit zum Abschlusse von Ver- 
gleichen zu geben und als Ordinationstermin zu dienen. Die österreichische 
Zivilprozeßordnung hat den Vorschlag erfolgreich aufgenommen. Weitere
	        
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