— 31 —
seine Sache verfechten mit Gründen, die er dieser entlehnt. Das
Recht selbst tritt möglicherweise ganz außer Streit, als wäre es
Nebensache 5?. So werden aufgezwungene Friedensverträge unge-
rechten Inhalts später zerrissen wie ein Fetzen Papier — vielleicht
unter allgemeinem Beifall. Auch ursprünglich gerechte Verträge,
die durch Aenderung der Verhältnisse in Ungerechtigkeit aus-
schlagen, unterliegen diesem Schicksal; man hat ja solche zer-
störende Kraft der Gerechtigkeit juristisch zurechtlegen wollen
durch Annahme einer allgemeinen stillschweigenden Vertrags-
klausel „rebus sic stantibus*°®. Alte Rückerwerbsrechte, die jetzt
ein unvergleiehlich wichtig gewordenes Gebietsstück entziehen
würden, werden undurchführbar durch eine Art Verjährung, die
es eigentlich im Völkerrecht nicht gibt; die Gerechtigkeit ist in
Frage. Sie ist es auch, die dahinter steckt, wenn gegenüber
zweifellosen Rechtsverpflichtungen ein „Notstand“ des Staates an-
gerufen wird oder sein „Recht auf Existenz“.
Das bürgerliche Recht verwebt solche Dinge, wenn sie be-
achtlich werden sollen, in seine eigenen Ordnungen; so entstehen
die oben erwähnten Billigkeitsansprüche, die Notwegsrechte usw.
Das Völkerrecht läßt sich nicht so leicht darauf ein; auf seinem
Gebiete kann die Gerechtigkeit zur Macht gelangen, auch ohne
erst in die Form Rechtens gebracht zu sein. Es hat auch dafür
Seinen judex in propria causa.
Freilich alle Anrufung der Gerechtigkeit kann auch bloß
Frechheit und Lüge sein, nirgends liegt das näher als auf völker-
rechtlichem Gebiete. Das beweist aber gerade, daß sie hier selbst
schon eine Macht ist und sein soll, deren Wirksamkeit jeder für
sich in Anspruch nehmen möchte. —
Wenn nach alledem die Gerechtigkeit gegenüber den andern
Zweigen der Moral von ganz unvergleichlicher Bedeutung
s® Von solchen Fällen sagt RÜMELIn, Reden und Aufsätze S. 177: „Die
Gerechtigkeit wächst dem Recht über den Kopf.‘
58 NıppoLp, Völkerrechtl. Vertrag S. 236 ff.