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KJELLENs neue Schrift erörtert ihren Gegenstand in einer Einleitung,
die sich als ‚„‚die Selbstbesinnung der Staatswissenschaft‘‘ betitelt, sodann in
fünf Kapiteln mit den Ueberschriften: 1. das allgemeine Wesen des Staats,
2. der Staat als Reich, 3. der Staat als Volk, 4. der Staat als Haushalt, Gesell-
schaft und Regiment, 5. der Staat unter dem Gesetze des Lebens. Hıeran reiht
sich eine Schlußbetrachtung über den Zweck des Staates.
Ich möchte mich nun unter der Devise amicus Kjellen, sed magis amica
veritas mit einigen Behauptungen des Verfassers auseinandersetzen, die mir
irrig erscheinen und gerade wegen der Bedeutung des Autors eine Widerlegung
erheischen. Die Einleitung und das erste Kapitel des Buches kehren ihre
Spitze gegen das, was der Verfasser die einseitig formaljuristische Betrachtung
der Aufgaben des Staates nennt (S. 5). Nur weil unser Staat seinen Wirkungs-
kreis überwiegend auf das Recht eingestellt hat, sei unsere Staatswissenschaft
eine Rechtswissenschaft geworden. Inzwischen sei aber die Reaktion gegen
das Manchesterideal immer stärker geworden, weshalb das Bedürfnis nach
einer Staatswissenschaft vorliegt, die gleichfalls nicht mehr vom Horizonte
Manchesters begrenzt wird und nicht mehr sehnsüchtig nach einem vergangenen
Zeitabschnitte zurückschaut, während die abendländische Staatsentwicklung
schon im Begriffe ist, einen neuen reicheren Inhalt zu finden.
Weil also die von GERBER und LABAND inaugurierte Methode in der Be-
handlung des Staatsrechtes ihre Aufgabe darin erblickt, die das Staatsleben
beherrschenden Rechtsätze herauszuarbeiten und mit derselben Fräzision dar-
zustellen, wie dies auf dem Gebiet des Privatrechtes schon längst der Fall war,
darum soll sie mit jener Lehre verwandt oder wesensgleich sein, die dem Staate
jede Kulturmission abspricht und ihn streng auf den Rechtszweck beschränken
will! In Wahrheit haben jene Methode und diese Lehre so wenig miteinander
zu tun, daßz.B. ein Socialist, wie ANTON MENGER ein streng juristisches Bild
des Sozialistenstaates zu entwerfen versucht hat, während andererseits ein
unverfälschter Liberaler wie BLUNTSCHLI in seinen staatsrechtlichen Schriften
die juristische Schärfe völlig vermissen läßt. KJELLEN scheint das Recht nur
in seiner abgrenzenden und trennenden Funktion, wie sie sich aus der Coexistenz-
maxime ergibt, und nicht auch in seiner mindestens ebenso wichtigen organi-
satorischen Funktion ins Auge zu fassen. Kaum verständlich ist es aber, wenn
er in diesem Zusammenhange sagt, daß wir nicht länger bei dem Gegensatz
Staat — Gesellschaft stehen bleiben können, nachdem die Zeit und das Leben
selbst ihn haben veralten lassen (!) und wenn er ‚„‚das Rechtsskelett des Staates
mit sozialem Fleisch und Blut gefüllt‘‘ sehen will, „wodurch der Staat selber
wachsen und sich vor unsern Augen abrunden würde (S. 13)‘. Das klingt doch
gerade so, als ob jemand die Unterscheidung von Anatomie und Physiologie
bekämpfen würde, weil nur beide zusammen ein volles Bild des Körpers er-
geben. KJELLEN übersieht, daß es jede Wissenschaft nur mit einem Aus-
schnitt der Wirklichkeit zu tun hat und daß die Staatsrech ts wissenschaft