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im Ernste die Identität des jetzigen deutschen Reiches mit dem 1806 unter-
gegangenen behaupten ?
Zu dem Rüstzeug der organologischen Hypothese gehört auch die Vorstel-
lung von dem Blühen und Welken, von der Jugend und dem Alter der Staaten.
absr diesen Punkt spricht sich KIELLEN weniger in seiner jüngsten Schrift,
als an einer überaus oharakteristischen Stelle der ‚Großmächte der Gegen-
wart‘ aus. Er erklärt sich dort (S8. 203) mit einem nicht mit Namen genannten
Japaner einverstanden, der für einige dieser Großmächte zu bestimmen gesucht
habe, ‚‚wie viel für jede von ihnen die Uhr geschlagen hat‘. Er sah Frankreich
an seinem Abend stehen, England am Mittagswendepunkt, Deutschland in der
elften Stunde des Vormittage, aber sein eigenes Land in der Stunde nach
Sonnenaufgang. KJELLEN bezeichnet dieses Bild als suggestiv und in seinen
Hauptzügen als unangreifbar (!). Es sei jedoch dahin zu ergänzen, daß die
Stunde Oesterreich-Ungarns ebenso offenbar (!) auf den Nachmittag zu ver-
legen ist, als die Frankreichs, die der Vereinigten Staaten und Italiens ebenso
sicher (!) auf den Vormittag, wie die Deutschlands, während die Rußlands
näher der Mittagsstunde oder in dieselbe fallen dürfte. Wir wissen nicht, ob
sioh KJELLEN nicht vielleicht durch den seitherigen Verlauf des Weltkrieges
veranlaßt gesehen hat, diese merkwürdige Staatenklassifikation zu revidieren,
und es ist dies auch für die Sache gleichgültig. Denn schon der bloße Gedanke,
die voraussichtliche Lebensdauer eines Staates — sei es auch nur im Verhältnis
zu anderen Staaten — bestimmen zu wollen, erscheint so grotesk, daß die Frage
nach der Richtigkeit oder Unrichtigkeit der Bestimmung gar nicht mehr auf-
zuweıfen ist.
Wenn man nämlich überhaupt von einem „Staatentod‘‘ sprechen will,
so darf man doch nicht außer Betracht lassen, daß er in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle nicht ein „natürlicher“, sondern ein ‚gewaltsamer“, d.h.
durch kriegerische Ereignisse herbeigeführter ist. So wenig sich nun auf Grund
der ärztlichen Untersuchung eines Soldaten voraussagen läßt, ob er in der
nächsten Schlacht fallen wird, so wenig kann man bei noch so genauer Kenntnis
der „Vitalität“ eines Staates wissen, ob ihm nicht eines Tages eine übermächtige
Koalition ein Ende bereiten wird, oder ob er nicht umgekehrt viel länger am
Leben bleibt, als seiner „Vitalität‘‘ entspricht, weil sich z. B. seine Nachbarn
nicht über die Art seiner Teilung einigen können. Könnten die Entente-Mächte
ihre so oft proklamierten Kriegsziele erreichen, so würde das Deutsche Reich,
für das nach dieser schwedisch-japanischen Ansicht die elfte Vormittagssturde
geschlagen hat, ebenso untergehen, wie seine Verbündeten, für die es Nach-
mittag oder vielleicht gar schon Abend sein soll.
Die österreichische Volkshymne schließt mit den Worten: Oesterreich wird
ewig stehen! ‘Und die gleiche Zuversicht in bezug auf die unbegrenzte Fort-
dauer des eigenen Staates dürfte bei allen Nationen zu finden sein. Man kann
dieser Zuversicht noch so zweifelnd gegenüberstehen, absurd erscheint sie nur