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Organisation wird kompensiert dadurch, daß sehr viel mehr Kinder aufwachsen
und Menschen leben wollen als früher. Die Folge hiervon ist, daß die durch
Religion, Recht und Sitte des Islam abgesonderte eingeborene Bevölkerung
im großen und ganzen auf dem alten niederen Niveau bleibt, infolgedessen
noch heute ebensowenig wie zu Anfang zu staatsbürgerlicher Gleichheit mit
den Europäern herangezogen werden kann, aber das Verlangen hiernach
doch infolge der fortschreitenden Schulaufklärung immer mehr empfindet.
Umgekehrt ist der französische Kolonist noch genau wie zu Anfang gezwungen,
sich gegen diese Ureinwohner und ihre Forderungen zur Wehr zu setzen und
zu diesem Zweck eine verfassungsrechtliche Sonderstellung zu verlangen.
Was sein Verhältnis zum Mutterland betrifft, so bedarf er der starken Hand
Frankreichs, um sich gegen die Ueberzahl der aufstrebenden mohammedani-
schen Einwohner zu halten; andererseits empfindet er alle Eingriffe der fran-
zösischen Regierung in seine eigenen Landesangelegenheiten als störend; und
schließlich fühlt er sich als Franzose und legt Wert darauf, diese seine Zu-
sammengehörigkeit mit dem Mutterland durch eine Mitwirkung algerischer
Volksvertreter im französischen Parlament versinnbildlicht zu sehen. — Zu
diesen mehr politischen kommen für Algerien noch außerordentlich heikle,
rein wirtschaftliche Probleme, durch die Gesetzgebung, Verwaltungspraxis
und Abmessung der staatlichen Rechtsphäre unangenehm erschwert werden;
so z. B. der Schutz, die Nutzung und Aufforstung der Wälder, die Entwicke-
lung der Olivenkultur und des Weinbaues, die Regulierung der Viehzucht,
bei der ausforsttechnischen Gründen gegen die beliebte Ziegenzucht ange-
kämpft werden muß; dann das Fiasko der Bergwerksunternehmungen, die
Konkurrenz der Häfen; dazu in der Wüste und im Steppenland eine ganze
Reihe von besonderen Problemen; außerdem die Frage der Staatsangehörig-
keit, die ebenso schwierig als wichtig ist, sowohl den zahlreichen spanischen
und italienischen Kolonisten gegenüber, wie bei den Eingeborenen an der
willkürlich politisch gezogenen und oft geänderten Grenze im Westen, Osten
und Süden. Von alledem erfahren wir durch GMELIN so gut wie nichts, und
doch sind alles dies Probleme, die in dem Kolonialland von direkt bestimmen-
dem Einfluß auf die Form der Verfassung sind und die immer wieder materielle
Ausgangspunkte zur Kritik der geltenden Verfassungsordnung gebildet haben.
Wenn man, wie GMELIN, nach dem heute geltenden Verfassungszustand
Algerien (8. 331 ff.) nicht als Staat, sondern als überseeische Provinz, als ein
Zwischenglied zwischen ‚„Untertanenland‘ und ‚Kolonie mit Repräsentativ-
verfassung‘‘ charakterisiert, so ist damit juristisch nicht viel ausgedrückt.
Tatsächlich haben wir es mit einem praktischen Kompromiß zwischen schwer
löslichen praktischen Gegensätzen zu tun, der augenblicklich durchaus einen
Typus für sich darstellt und sich in das System der typischen Kolonialver-
fassungsformen eben nur durch negative Charakterisierung einfügen läßt. Daß
Frankreich, trotz aller Unzufriedenheit in der Kolonie, Algerien ohne Erschütte- «