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all der nämliche. Es wäre darum ein großer Irrtum zu glauben,
daß man sein Volk gegenüber den Menschen jenseits der Grenze
mit leidenschaftlichem Haß erfüllen kann, der es blind und taub
macht für alle Forderungen der Gerechtigkeit, und dann von dem-
selben Volke erwarten kann, es werde für die inneren Verhältnisse den
zarten, feinen Sinn bewahren und betätigen, den die Ausübung der
Gerechtigkeit verlangt. Namentlich was man im Krieg sich ge-
stattet: die Bejubelung der Meuchelmörderin des fremden Sol-
daten, die giftigen Verleumdungen des ganzen feindlichen Volks,
die patriotischen Rechtsbeugungen der Gerichte usw., das sind
alles nur Symptome eines schleichenden Fiebers, dem die ganze
Begabung des Volkes für Gerechtigkeit unterliegt. Zunächst leidet
das fremde Volk darunter. Aber nun kommt die ewige Gerechtig-
keit und schlägt das Volk, das seine Seele so vergiften ließ, mit
seinem eigenen Unrecht. Das ist erkennbar für jeden, der in der
Vergangenheit zu lesen versteht und in der Gegenwart. Justitia
est fundamentum regnorum: das Wort enthält eine Wahrheit voll
finsterer Drohung für unsere Kulturwelt.
Wer sein Volk lieb hat, der muß bedacht sein, bei ihm die
Gerechtigkeit zu pflegen für alle solehe Massenbeziehungen: der
Völker, Nationalitäten, Konfessionen, sozialen Klassen, Parteien.
Das Völkerrecht, in welchem die entsprechende Seite der Gerech-
tigkeit Form gewinnen will, ist am exponiertesten. Darum mag
man wohl seiner vor allem gedenken. Verdienstlich sind alle Be-
strebungen, die ihm mit allerlei wohlausgedachten Behelfen und
Einrichtungen zu Hilfe kommen wollen. Die Gesinnung aber
ist die Hauptsache.
Vielleicht wird auch einmal in unseren Vorlesungen über
Völkerrecht als wichtiges Kapitel erscheinen die durchgearbei-
tete Lehre von der Gerechtigkeit für Massenbeziehungen, insbe-
sondere der Völkergerechtigkeit. Lehren läßt sich das ja,
und vieles davon ist unter dem falschen Namen Völkerrecht bis-
her schon gerne vorgetragen worden. Es wäre nur unter das