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ung durch den Weltkrieg leiten konnte, liegt weniger an den Segnungen der
geltenden Verfassung als an der unerbittlichen furchtgebietenden Strenge
der französischen Beamten; außerdem an der Tatsache, daß die französischen
Kolonisten, da sie gesetzlich und noch mehr faktisch vor dem Recht und der
Verwaltung außerordentlich privilegiert sind, das ganze Land mit ihrem
leitenden Einfluß durchdringen und überall für Aufrechterhaltung der ver-
haßten französischen Autorität sorgen. Unter den Kolonisten besteht ein
starkes Solidaritätsgefühl, gerade weil sie alle den latenten Widerstand der
Mohammedaner empfinden, die selbst in zahlreiche Klassen, Stämme und
Schichten geteilt sind und dem ihnen gegenüber einheitlichen Willen der
französischen Minderheit keinen irgendwie organisierten Gesamtwillen ent-
gegenstellen können !. Die Stempelung aller Franzosen in Algerien — auch
der ärmsten — zu einer Herrenklasse selbst gegenüber reichen und gebildeten
Eingeborenen, das ist der Kernpunkt der algerischen Verfassung. Wie dieser
Grundsatz früher, wie er heute in Algerien durchgeführt worden ist, das müßte
den Angelpunkt einer algerischen Verfassungsgeschichte bilden, die eine Ent-
wickelung — d. h. doch etwas mehr als eine registrierende Chronik der Gesetz-
gebung — darstellen wollte.
KARL HADANK hat kürzlich (Histor. Vierteljahrsschrift XVII, 1914,
S. 263) PAUL DARMSTÄDTERS Geschichte der Aufteilung und Kolonisation
Afrikas ‚„‚ungebührliche Bevorzugung von Einzelheiten der Verfassungen“
vorgeworfen und meint, dies sei eine bloße Mode, die Hand in Hand gehe
mit der breiten Erörterung von historisch bedeutungslosen Plänen und Träu-
men. „Wenn die Geschichtschreiber sich weniger um papierne Bestimmungen
und mehr um die realen Vorgänge kümmerten, die den Lauf der Geschichte
bestimmen, so würden sie ihrer Aufgabe besser genügen.‘ Auch wer Rechts-
geschichte treibt, muß als Historiker arbeiten und muß sich dem Erfordernis
jeder Geschichtschreibung unterwerfen, Klarheit aus den realen Tatsachen
zu schöpfen, anstatt sich allein auf die zeitgenössischen Spiegelbilder dieser
Tatsachen zu stützen, wie sie der Jurist in der wechselnden Gesetzgebung
findet. Wenn es heute kein ähnlich umfangreiches französisches Werk über
Algerien gibt, so ist der Grund dafür, daß sich schwerlich ein französischer
Gelehrter finden würde, der imstande wäre, so ‚wie es GMELIN tut, das Wichtige
mit dem Gleichgültigen, das Bleibende mit dem Vorübergehenden, das Ge-
lungene mit dem Verfehlten zu einer trockenen Chronik der Gesetzgebungs-
arbeit zu verschmelzen. Man halte daneben das bekannte Werk COCHERIS
! Aehnliches wäre von den zahlreichen Spaniern und Italienern im Lande
zu sagen. Sie werden verachtet, aber nach Möglichkeit benutzt und gern
zwangsweise assimiliert. Eine viel bessere Stellung haben die vermögenden
deutschen und englischen Kaufleute und Villenbesitzer, wenngleich auch sie
durchaus nicht beliebt sind.