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heutigen Praxis kaum, und die selbstverständliche Einfluß- und Fühlungnahme
des Kanzlers, die gewiß öfters vorkommen mag, weist äußerlich keinen Unter-
schied auf zur Behandlung eines Ressortministers im Kabinett eines Einheits-
staates mit kräftig ausgeprägter Ueberordnung des Ministerpräsidenten, wie
etwa in Oesterreich.‘ Deshalb die volle Verantwortlichkeit der Staatssekretäre,
die nur noch formell aus dem Stellvertretungsgesetz, in Wirklichkeit aus
ihrer tatsächlichen Stellung abzuleiten ist. Ja, der Verfasser behauptet sogar,
die Reichsleitung sei in ihrer Form nicht sehr weit entfernt von einem Minister-
kollegium. Den einenden Faktor, der die gemeinsame Politik sichert und
die gemeinsame Verantwortlichkeit begründet, sieht er in der überragenden
Stellung des Kanzlers.
Die Struktur der Reichsleitung, so schließt WITTMAYER, ist also für
die Einführung des Parlamentarismus geeignet.
Eine Eigentümlichkeit des Deutschen Reiches, diees von einem monarchi-
schen Einheitsstaat unterscheidet, ist der Umstand, daß die eine legislative
Kammer, der Bundesrat, weitgehende administrative Kompetenzen hat. Es
wäre deshalb bei parlamentarischer Regierung logisch, sagt WITTMAYER, daß
der Kanzler und die Staatssekretäre auch für die Verwaltungsakte des Bunde>-
rats die Verantwortung übernähmen, wie sonst die Minister für den Monarchen.
Eine Komplikation entsteht dadurch, daß die Staatssekretäre einerseits,
bei parlamentarischem System, unter der Einwirkung des Reichstages stehen,
andererseits aber als Minister und Bundesratsdelegierte Preußens die preußische
Politik und die preußische Instruktion zu befolgen haben. Daraus folgt, daß
eine gleiche Orientierung im Reiche und in Preußen anzustreben ist, soll nicht
ein verhängnisvoller Zwiespalt entstehen. Das führt zu der Konsequenz einer
Demokratisierung Preußens. Sie ist vom Standpunkt des Reiches eine dringende
Forderung, sagt WITTMAYER, wenn im Reich der Parlamentarismus eingeführt
werden soll.
Wenn parlamentarische Staatssekretäre als preußische Bevollmächtigte
im Bundesrat tagen, so hat der Reichstag einen ‚Anteil am Bundesrat‘ und
wirkt auf die Sanktion von Gesetzen, auf die Verordnungen und sonstigen
Verwaltungsakte ein. Der Verfasser erkennt darin die Gefahr, daß der Födera-
lismus verwischt und das Reich zum Einheitsstaat mit einer Kammer
werde. Der Föderalismus, meint er, wird namentlich auch dadurch geschwächt,
daß der Bundesrat ein Ministerium nicht stürzen kann. Wäre doch sein Vor-
gehen ein Angriff gegen die Staatssekretäre, die zugleich preußische Minister
sind, also ein Konflikt der Mittel- und Kleinstaaten mit dem Hegemoniestaat,
Wird aber der Föderalismus geschwächt, so haben darunter vor allem die
nichtpreußischen Staaten zu leiden, da sie keine Minister haben, die zu-
gleich Reichsminister sind. Um hier Hilfe zu bringen, meint der
Verfasser, sollte man den Mittelstaaten das Recht einräumen, selbst je einen