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gewesen, ehe er Richter wurde; der Staatsanwalt und der Straf-
richter haben Jahre lang als Verteidiger plädiert, nicht nur um
die Technik des Prozesses von allen Seiten her zu lernen,
sondern vor allem damit sie sich recht gründlich das „was Du
nicht willst, daß man dir tut“ einschärfen und lebendig halten,
das doch schließlich auf dem Grund aller menschlichen Gerechtig-
keit liegt‘: der Ankläger-Anwalt weiß, daß er morgen für die
Verteidigung bestellt werden kann, der Verteidiger hofft am Ende
seiner Laufbahn den Richterstuhl zu besteigen; und hat er das
erreicht, so sieht er im jungen Anwalt, der vor ihm plädiert
einen jüngeren Bruder, nicht den Menschen einer anderen Kaste,
einer anderen Gesinnungsart, einer anderen Moral und eines
anderen Gerechtigkeitssinnes. Hier sehen wir den Vorteil des
englischen Systems ganz klar. Im Staatswesen, im Parlament,
tut das Zweiparteiensystem ähnliche Dienste.
Der Engländer liebt es, den Sinn seines Volkes für ehrliches
Spiel, fair play zu rühmen. Er wendet häufig auch auf die Politik
das Bild des Spiels und seiner Regeln an. Während die Rennsport-
leidenschaft einem Minister wenigstens bei den Radikalen abträg-
lich sein kann, ist noch keinem Führer der Rechten oder Linken
Schaden daraus erwachsen, daß er ein guter Kricketer oder Golf-
spieler ist. A. J. BALFOUR, der letzte konservative Führer, ist
bekannt dafür, daß ihm auch in den Augenblicken äußerster
Spannung im Parlament die Gleichnisse des Sportsmannes leichter
zur Hand sind als die pathetischen Argumente einer forensischen
Beredsamkeit. Aber Spiel und Prozeß sind doch auch wieder
verwandt. Auch davon hat der Engländer wenigstens die Form
im Gedächtnis bewahrt, daß das Parlament ein Gerichtshof war,
— in Frankreich denkt niemand mehr in Deputiertenkammer
oder Senat an das alte Parlement de Paris mit seinen großen
Juristen; in England wird man auf Schritt und Tritt daran erinnert,
daß Westminster der Gerichtshof des Lordkanzlers, der Sıtz des
Court of Parliament ist. Oft ist, besonders in unseren Tagen, der