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einen Augenblick daran, daß die ungeschriebenen Regeln, die den
Kabinettsmitgliedern zugleich die Leitung der Parlamentsgeschäfte
darüber zu bestimmen, welche Vorlagen nach der Ablehnung im Oberhaus
kraft der Parlamentsakte zum zweiten- und drittenmal an das Unterhaus
gebracht werden und so schließlich Gesetzeskraft erlangen sollen (wie das
bisher für drei Vorlagen, die Home Rule Bill, die Trennung von Kirche
und Staat in Wales (Established Church (Wales) Bill) und die schottische
Temperenzbill (Temperance (Scotland) Bill) geschehen ist, dagegen für die
ebenfalls vom Oberhaus abgelehnte Londoner Seerechtsdeklaration nicht).
Auch weiß man, daß ein „private member“ mit einem Gesetzentwurf,
selbst wenn er beim Los-Ziehen um die Reihenfolge Glück hat, unter gar
keinen Umständen zur dritten Lesung, meist nicht einmal zur zweiten kom-
men kann, wenn die Regierung das nicht will. Das „Parlament“ hat gar
keine Gesetzgebungsinitiative. Dazu kommt, daß der Sprecher neuerdings
immer mehr sein Amt und seinen Einfluß dazu verwendet, der Regierung
nützlich zu sein und ihr das parlamentarische Dasein zu erleichtern, und
da vom Sprecher die Möglıchkeit der einzelnen Abgeordneten, zum Wort
zu kommen, auf Gnade und Ungnade abhängt, so ist damit der letzte Rest
von Unabhängigkeit des Parlaments gegenüber dem Kabinett geschwunden.
Ich möchte das betonen, weil man in Deutschland die Macht des Sprechers
zu unterschätzen pflegt; Lowther ist eine der wichtigsten Figuren nicht nur
der englischen, sondern der europäischen Politik des letzten Jahrzehnts
gewesen, einer der Hauptförderer der anglo-russischen Entente.
Ich meine, der Kern des englischen parlamentarischen Systems liegt
also darin, daß die allgemeinen Wahlen den leitenden Minister bestimmen,
und daß der Monarch kein Veto, natürlich erst recht keine Initiative hat,
und Piloty hat durchaus recht, wenn er dieses System als versteckte Re-
publik einschätzt. Dagegen bezieht sich der Aufsatz der Frankfurter Zei-
tung auf den Fall des letzten Premier-Wechsels in England; hier habe der
König Asquith durch Lloyd George ersetzt, ohne daß ihm ein Parlaments-
votum die Direktive dazu gegeben habe. Das ist schief. Erstens deshalb,
weil überhaupt der Premier dem König nicht durch Parlamentsvotum auf-
genötigt wird, sondern bei der allgemeinen Wahl durch die Führerschaft
der Mehrheitspartei, die er schon besitzt, beim Abgehen eines Premiers,
dessen Partei die Mehrheit hat, durch dessen Rat (so Rosebery auf Glad-
stones Rat gegen Harcourt, den die Partei eigentlich wollte), beim Tod des
bisherigen Führers durch Wahl der Parteiabgeordneten. Zweitens aber
deshalb, weil der Fall Lloyd George-Asquith in Wahrheit beispiellos und
deshalb nicht zum Beispiel geeignet ist; denn er hat sich im sogenannten
Koalitionskabinett zugetragen, das von Asquith gebildet worden war, weil
die Mehrheit der liberal-radikalen Partei nicht mehr tragfähig, die sonst in sol-
chem Fall vorzunehmenden Neuwahlen aber ausgeschlossen waren; als nun