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politik liegen Hemmnisse, die eserschweren, den wirklichen Volkswillen
zu ergründen und zur Durchführung zu bringen, insbesondere, wenn die
Führung der Geschäfte nur durch eine Koalition mehrerer Parteien mög-
lich ist. Obschon daher die Regierung Parteiregierung ist und sein muß,
darf sie sich nicht damit zufrieden geben, es der Partei recht zu machen,
sondern sie muß die treibenden Kräfte im Volke fortgesetzt beobachten
und berücksichtigen. Die verfassungsmäßige Notwendigkeit, im Besitze
des Vertrauens der Parlamentsmehrheit zu sein, darf nicht zu einer Ab-
hängigkeit der Regierung führen, die sie ausschließlich zum ausführenden
Organe dieser Mehrheit macht. Mit wahrer Demokratie, die der Volks-
mehrheit den entscheidenden Einfluß im Staate zuweist, kann eine schran-
kenlose Parlamentsherrschaft nicht minder in Widerspruch geraten, als
eine Staatsform, in der dem Herrscher der bestimmende Einfluß ein-
geräumt ist.“
Nun sagt man: in der Reichsverfassung Art. 26 und in den
meisten konstitutionellen und republikanischen Verfassungen steht
aber doch: „Die Abgeordneten sind Vertreter des ganzen Volkes.
Sie sind nur ihrem Gewissen unterworfen und an Aufträge nicht
gebunden“, So sagt auch KARL BINDING im „Werden und
Leben der Staaten“ S. 302:
„Fast energischer noch als der Vertretergedanke für die Parlamente
als Ganzes zurückzuweisen ist (s. oben S. 259 Anm. 5), ist er abzulehnen in
Anwendung auf die einzelnen Parlamentsmitglieder. Diese haben gar nichts
zu vertreten, als das allgemeine Beste; nicht die Interessen ihrer Wähler
oder der Stände, denen sie angehören, oder gar der Krone, die sie
ernannt hat.“
Wie verhält es sich aber hiermit in Wirklichkeit? Ich will
nicht bestreiten, daß mancher Abgeordnete den redlichen Willen
hat und seinen hohen Beruf darın erblickt, die Interessen des
gesamten: Volkes, das allgemeine Beste, zu vertreten. In erster
Linie aber fühlt er sich doch immer nur als Vertreter der Inter-
essen seines Wahlkreises, also der Majorität, die ihn gewählt hat.
40 So schon in der Constitution francaise vom 3./14. September 179]
Tit. II Chap. 1 Sect. III Art. 7: „les reprösentants nommes dans les departe-
ments ne seront pas representants d’un departement particulier, mais de
la nation entiere, et il ne pourra leur ötre donn& aucun mandat.“ S. ferner
Bayern Art. 35 Abs. 1, Sachsen Art. 4 Abs. 2, Württemberg $ 22,
Baden $ 40 u. a. m.