6 19. Der Reichstag. 115
§* 19. Der Reichstag.
In der überlieferten Bundesstaatstheorie galt der Satz, daß dem Staatenbunde
ein „Delegirtenparlament“, dem Bundesstaate eine unmittelbare Volksvertretung
entspreche, d. h. daß die Volksvertretung im Staatenbunde sich aus Delegirten der
Einzellandtage zusammensetzen müsse, wie dies z. B. der österreichische Reformplan
v. J. 1863 (Arndt, Komm., S. 38, und oben S. 24) forderte, daß dagegen im
Bundesstaate die Volksvertretung unmittelbar vom Bundesvolke gewählt werde.
In dem überlieferten Sinne dieses Wortes ist das Deutsche Reich ein Bundesstaat.
Dem entspricht es, daß der deutsche Reichstag nicht durch Ausschüsse oder Delegirte
der Einzellandtage, sondern durch directe Volkswahl zusammengesetzt wird. Politisch
ist der deutsche Reichstag die Vertretung des deutschen Volkes, rechtlich ist er Ver-
treter Niemandes, wohl aber ein Organ des Deutschen Reiches, und zwar eines
der obersten, dasjenige, das gebildet wird durch die vom deutschen Volke vor-
genommenen Wahlen. Die Reichstagsmitglieder find zwar nach dem Wortlaute
des Artikels 29 der Reichsverfassung „Vertreter des gesammten Volkes“, damit soll
aber nur gesagt sein, daß sie nicht bloß Vertreter des Bundesstaates oder nur der
Kreise find, in denen sie gewählt sind, daß sie ferner die Gesammtinteressen des
deutschen Volkes vertreten dürfen und müssen, daß es auch für Wahl und Wählbar-
keit auf die Zugehörigkeit zu dem einen oder anderen Bundesstaate nicht ankommt.
Im rechtlichen Sinne sind sie weder Vertreter noch Mandatare; sie find an keine
Aufträge oder Instructionen gebunden, von wem auch immer diese ausgehen
(Reichsverfassung Art. 29); fie find rechtlich nicht einmal an die von ihnen ab-
gegebenen Versprechungen oder übernommenen Verpflichtungen gebunden; ihr so-
genanntes Mandat kann von Niemandem widerrufen werden und erlischt nur mit
Ablauf der Wahlperiode oder der Auflösung des Reichstages. Vertrauens= oder
Mißtrauensvota ihrer Wähler find rechtlich ebenso belanglos, wie wenn sie von
beliebigen anderen Personen ausgestellt worden (Üübereinstimmend Laband, 1,
S. 257 ff., Seydel, Comm., S. 191 ff.).
Zu den Verstärkungen des föderativen Elements, welche die Verfassung des
Deutschen Reiches gegenüber der des Norddeutschen Bundes einführte, kann wohl.
auch folgender zu Artikel 28 der Reichsverfassung gemachte Zusatz gerechnet werden:
„Bei der Beschlußfassung über eine Angelegenheit, welche nach den Be-
stimmungen dieser Verfassung nicht dem ganzen Reiche gemeinschaftlich ist,
werden die Stimmen nur derjenigen Mitglieder gezählt, die in Bundesstaaten
gewählt find, welchen die Angelegenheit gemeinschaftlich ist.“
Diese im Artikel 7, Abs. 4 der Reichsverfassung über den Bundesrath ge-
troffene Vorschrift, welche mit dem Inhalte des Artikels 29 im logischen Wider-
spruche stand, ist durch das Gesetz vom 24. Februar 1873 (R.-G.-Bl. 1873, S. 45)
wieder aufgehoben worden.
Nicht im Widerspruche mit Artikel 29 der Reichsverfassung steht es, daß die
Abgrenzung der Reichstagswahlkreise sich an die einzelnen Bundesstaaten und deren
Verwaltungseintheilung anlehnt. Der Charakter des preußischen Abgeordneten-
hauses als der politischen Vertretung des ganzen preußischen Volkes wird dadurch
nicht beseitigt und verändert, daß die Wahlbezirke zusammen mit den Kreisgrenzen
fallen, daß also die einzelnen Wahlkreise nicht über Provinzial-, geschweige denn
über die Kreisgrenzen hinausgreifen.
Der Reichstag ist eines der obersten Organe des Deutschen Reiches, aber er
ist kein Rechtssubject, so wenig wie das preußische Abgeordnetenhaus. Er hat kein
Vermögen. Das Reichstagsgebäude wie die übrigen zu seinem Gebrauche dienenden
Gegenstände find Reichseigenthum (Seydel, in Hirth's Annalen 1880, S. 358).
Die Bureaubeamten und Diener im Reichstage und für den Reichstag sind Beamte
des Deutschen Reiches und den für Reichsbeamte geltenden Vorschriften unterworfen.
Gesetz, betr. die Rechtsverhältnisse der Reichsbeamten vom 31. März 1878 (R.-G.-Bl.
1873, S. 61, § 156, Abf. 1).
Da die Reichstagsmitglieder Vertreter des Volkes sind (Artikel 29), so können
die Bundesfürsten nicht wählen, noch gewählt werden, und sind die auf sie ab-
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