§ 36. Das Reichshaushalts-Etatsgesetz. 335
Art. 2 des Gesetzes vom 14. September 1866 (Preuß. G.-S. 1866, S. 563)
bestimmte:
„Der Staatsregierung wird in Bezug auf die seit dem Beginn des
Jahres 1862 ohne gesetzlich festgestellten Staatshaushalts -Etat geführte
Verwaltung, vorbehaltlich der Beschlußfassung des Landtages über die Ent-
lastung der Staatsregierung nach Vorlegung der Jahresrechnungen, In-
demnität ertheilt, dergestalt, daß es rücksichtlich der Verantwortlichkeit
der Staatsregierung so gehalten werden soll, wie wenn die Verwaltung in
der erwähnten Zeit auf Grund gesetzlich festgestellter und rechtzeitig publizirter
Staatshaushalts-Etats geführt worden wäre.“
Die liberalen Parteien und die auf deren Anschauungen stehenden Staatsrechts-
lehrer: stellen die Folgen des nicht zu Stande gekommenen Etatsgesetzes in nach-
stehender Weise dar: Die Verfassungsurkunde befehle in Art. 99 kategorisch, daß
der Staatshaushaltsetat jährlich durch ein Gesetz festgestellt werden soll, sie gedenke
aber in Art. 62, Abs. 3 der Möglichkeit, daß der Etat im Landtage verworfen
werde. Die Staatsregierung habe in solchem Falle sofort mit positiver Rücksicht
auf die Verwerfungsgründe einen neuen Etatsentwurf vorzulegen. Halte dies die
Regierung mit dem Staatswohl nicht für vereinbar oder, weil das Herrenhaus
den ersten Entwurf wegen der vom Abgeordnetenhause vorgenommenen Aenderungen
verworfen hat, für wirkungslos, so könne sie durch Auflösung des Abgeordneten-
hauses an das Volk appelliren oder durch Ernennung neuer Mitglieder des
Herrenhauses den Widerstand dieses Hauses brechen. Führe auch dieses nicht
zum Ziele, so haben die Minister dem Monarchen ihre Portefeuilles zurückzugeben.
Keineswegs aber seien fie berechtigt, die Staatsverwaltung ohne gesetzlich fest-
gestellten Etat zu führen. Dies wäre einfach ein Verfassungsbruch.
Damit deckt sich, was Dr. Waldeck am 9. April 1867 im verfassungs-
berathenden Reichstage sagte?: „Hat die Regierung sich durch mehrere Auflösungen
überzeugt, daß sie nicht im Einklange mit dem Willen des Volkes ist, so dankt
sie ab und räumt anderen Männern den Platz ein, welche die Meinung des Volkes
für sich haben.“ — „Es mag immer Jeder Minister sein, den der König dazu
ernennt. Es wird aber, wenn das Abgeordnetenhaus oder das Parlament seine
Schuldigkeit thut und entschieden thut, dahin kommen, daß schließlich die wahre,
öffentliche, wohlerwogene Meinung doch siegt. Und dieses zu erreichen, betrachte
ich für das Streben des ganzen constitutionellen Lebens, für dessen Zweck und für
dessen Kern.“
Diese vorgetragenen Theorien wurzeln in dem Gedanken, daß das Abgeordneten-
haus der entscheidende Factor ist, daß Krone und erste Kammer gehorchen müssen,
wenn das Abgeordnetenhaus nach mehrmaliger Auflösung bei seiner Ansicht ver-
harrt. Sie wurzeln in dem Satze von der Souveränetät des Volks, an diesfes,
als die höhere und höchste Instanz, habe die Krone durch Auflösung zu appel-
liren; spreche das Volk durch Wiederwahl, so müsse die Krone nachgeben —
cht bloß in Bezug auf den Etat, sondern auch in Bezug auf die Bestellung der
inister.
Da nun die Preußische Verfassung keineswegs das Princip der Volkssouveränetät
ausgesprochen und die Krone ebenso wie das Herrenhaus nicht als unter dem Ab-
geordnetenhause stehende, minderwerthige Gesetzgebungsfactoren hingestellt hat, so
muß diese Theorie als dem pofitiven preußischen Staatsrecht nicht entsprechend und
als eine aus willkürlichen Vordersätzen gezogene Abstraction bezeichnet werden.
Auf der anderen Seite kann auch derjenigen Ansicht, welche namentlich von
Labands vertreten wird, nicht beigestimmt werden, und welche, etwa wie folgt,
wiederzugeben ist. Das Etatsgesetz sei kein wahres Gesetz, sondern nur ein Ver-
waltungsact in gesetzlicher Form; daraus folge, daß bei Vornahme dieses
1 Schulze, Preuß. Staatsrecht, II, S. 201, 2 Das Budgetrecht nach der Preußischen Ver-
vd. Rönne, 4. Aufl., besonders Schwartz, Comm. fassungsurkunde unter Berücksichtigung der Ver-
zu Art. 99. fassung des Norddeutschen Bundes, Berlin 1871.
1 Sten. Ber. S. 641 f.