Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

§ 8. Die Errichtung des Deutschen Reiches. 35 
ergehen. In Hessen südlich des Mains wurde die Verfassung vom Ministerium 
„Zufolge Allerhöchster Ermächtigung“ am 31. December 1870 im Regierungsblatt 
zur Kenntnißnahme und Nachachtung verkündet mit dem Hinzufügen, „daß Ein- 
willigung der Stände und Ratification stattgefunden hat“". Am gleichen Tage 
wurde sie vom Großherzoge von Baden im badischen Regierungsblatt „zur all- 
gemeinen Nachachtung“ publicirt. Der König von Württemberg verordnete, 
nachdem die Verträge die verfassungsmäßige Zustimmung der Stände erlangt 
hatten, daß diese Verträge verkündigt werden (württembergisches Regierungsblatt 
1871, Nr. 1). Im Publicationspatent König Ludwigs II. von Bayern vom 
30. Jan. 1871 (bayerisches Gesetzbl. vom 30. Jan. 1871) heißt es: „Nachdem zu 
diesen Verträgen, insoweit durch deren Inhalt der verfassungsmäßige Wirkungskreis 
des Landtages berührt wird, die Zustimmung des Landtages ertheilt ist, haben Wir 
zu denselben Unsere Ratiftication ertheilt, und ertheilen Wir hiermit allen darin 
enthaltenen Bestimmungen, welche den verfassungsmäßigen Wirkungskreis des 
Landtages berühren, gesetzliche Kraft und Geltung und verfügen, daß diese Verträge 
sofort durch das Gesetzblatt verkündigt und ihrem ganzen Inhalte nach zum Voll- 
zuge gebracht werden.“ 
Die deutsche Bundesverfassung erlangte also wie jedes andere bayerische u. s. w. 
Landesgesetz dadurch in Bayern u. f. w. Geltung, daß der Landesherr diese Ver- 
fassung nach erfolgter Zustimmung der Stände zur Befolgung seinen Unterthanen 
anbefohlen hat. Ganz richtig erkannte man, daß die Bundes-(Reichs-) Verfassung 
die Rechte erheblich beeinträchtigt, welche die bayerische u. s. w. Landesverfassung 
dem bayerischen u. s. w. Landtage einräumt. Wenn Hänel fragt, was gehe z. B. 
die Freihafenstellung Hamburgs die Süddeutschen an, so ist darauf zu antworten, 
sehr viel in nationaler, politischer, wirthschaftlicher und steuerlicher Hinsicht. Paris 
hat ein sehr großes Interesse daran, ob Havre oder Marseille Freihäfen sind. Um 
nur eines herauszugreifen: während die Bayern die Zölle, die Tabaksteuer u. s. w. 
des Reiches an die Reichskasse zahlen und also auch für die Freihafengebiete mit- 
zahlen, brauchen die Freihäfen nur ein Aversum zu zahlen; find die Freihäfen 
Ausland für bayerische Waaren, können sie anstatt der durch Zölle geschützten und 
im Preise höher gehaltenen bayerischen Locomotiven, Getreides, Viehes billigere, 
gollfreie englische Locomotiven, billigeres und zollfreies amerikanisches Getreide und 
Vieh beziehen. 
Auf Seiten des Norddeutschen Bundes erfolgte der Eintritt der süddeutschen 
Staaten gemäß Artikel 79, Absatz 2 der Bundesverfassung im Wege der Bundes- 
gesetzgebung. Die norddeutschen Staaten einzeln und als solche brauchten nicht 
mehr gefragt zu werden. Indem sie die norddeutsche Bundesverfassung seiner Zeit 
als Landesgesetz annahmen, haben sie zugleich für alle Zukunft verbindlich erklärt, 
was in Ausübung der in Artikel 79, Absatz 2 der Bundesverfassung ertheilten 
Ermächtigung geschehen wird, insbesondere, daß mit Eintritt der süddeutschen 
Staaten deren Bundesraths= und Reichstagsmitglieder auch über preußische und 
sächsische Angelegenheiten mit beschließen, daß Preußen und Sachsen auch für süd- 
deutsche Truppen, Festungen mit bezahlen u. fs. w. 
Zweifellos enthalten die die Bundes-(Reichs-)Verfassung annehmenden Gesetze 
„Acte der Gesetzgebung im materiellen Sinne“. Denn, was könnte mehr eine 
Rechtsnorm sein, als die Vorschrift, wer über Proceß= und Strafrecht, über 
Steuern und Militärlasten zu bestimmen hat, oder wie lange die Militärpflicht 
dauert? 
Die rechtsverbindliche Kraft der deutschen Bundes-(Reichs-)Verfassung beruhte 
den Unterthanen gegenüber darauf, daß sie im Norddeutschen Bunde auf dem Wege 
der Bundesgesetzgebung, in den süddeutschen Staaten durch Landesgesetze verkündet 
und angeordnet ist 1. Im norddeutschen Reichstage wurden die Novemberverträge 
in den Sitzungen vom 5. bis 9. December 1870 mit redactionellen Aenderungen 
des Art. II, § 10 und des Art. III, § 8 angenommen (Sten. Ber. Bd. I, S. 67—164). 
  
— ——.— 
1 Ebenso Seydel, Comm., 2. Aufl., S. 24 ff. 
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