Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches.

6 65. Elsaß-Lothringen. 747 
erstreckt sich auf die Gegenzeichnung zu allen Kaiserlichen Verordnungen und Ver- 
fügungen, nicht blos auf die Gegenzeichnung zu denjenigen Anordnungen und Ver- 
fügungen, welche überhaupt nur gültig mit Genehmigung des Reichstages getroffen 
werden dürfen. Der Reichstag hat die ihm in allen elsaß = lothringischen An- 
gelegenheiten zustehende Gesetzgebungsgewalt neben der Staatsgewalt dem Kaiser 
übertragen; es konnte daher durch Gesetz auch vorgeschrieben werden, daß dem 
Reichstage über die Ausübung dieser Befugnisse Rechenschaft gegeben werde. Aller- 
dings handelt es sich auch in diesem Falle nicht um eine sogenannte juristische, 
sondern um eine sogenannte politische Verantwortlichkeit. 
Die Fälle, in denen Kaiser und Bundesrath an die Zustimmung des Reichs- 
tages gebunden find, betreffen (§ 3, Abs. 2 des Vereinigungsgesetzes) die Fälle der 
Aufnahme von Anleihen oder Uebernahme von Garantien für ee und Lothringen, 
wenn durch diese nicht blos eine Belastung der elsaß-lothringischen Bundeskasse (des 
für Elsaß und Lothringen bestimmten Theils des Reichsfiskus), sondern eine Be- 
lastung des Reichs herbeigeführt wird, wenn also das ganze Reich mit allen seinen 
Angehörigen dadurch betroffen wird. 
Durch Gesetz, betreffend die Einrichtung und Verwaltung, vom 30. Dezember 1871 
(G.-Bl. für Els.-Lothr. 1872, S. 49) wurde ein Oberpräaßzo ent in Straßburg für 
Elsaß und Lothringen bestellt, der dem Reichskanzler untergeben war. In diesem 
Gesetze wurde zugleich dem Reichskanzler die Ermächtigung ertheilt, abgesehen von 
der Gegenzeichnung und der Verantwortlichkeit, alle dem Reichskanzler in Elsaß- 
Lothringen zustehenden Befugnisse, soweit sie nicht anderweit durch specielle Reichs- 
gesetze oder Kaiserliche Verfügungen geregelt waren oder den Ministern der aus- 
wärtigen Angelegenheiten oder des Krieges zustanden, oder die indirecten Steuern 
betrafen, ganz oder theilweise dem Oberpräsidenten zu übertragen. Von dieser Er- 
mächtigung machte der Reichskanzler durch die Bekanntmachung vom 29. Januar 
1872 (Els-Lothring. Ges.-Bl. 1872, S. 172) ausgiebigen Gebrauch. Durch Kaiser- 
lichen Erlaß vom 29. Oktober 1874 (Elf.-Lothring. Ges.-Bl. 1874, S. 87) erhielt 
der Reichskanzler die Befugniß, einen aus Mitgliedern der Bezirkstage gebildeten 
elsaß-lothringischen Landesausschuß durch (und bezw. um) den Oberpräfidenten 
versammeln zu lassen, welchem Ausschusse Entwürfe von Gesetzen für Elfaß- 
Lothringen über solche Angelegenheiten, welche der Reichsgesetzgebung durch die Ver- 
faffung nicht vorbehalten sind, einschließlich des Landeshaushaltsetats, zur gutacht- 
lichen Berathung vorgelegt werden können, ehe sie den zuständigen Organen der 
Gesetzgebung zur Beschlußfassung zugehen. " 
Durch das Reichsgesetz, Useffend die Verfassung und Verwaltung Elsaß- 
Lothringens, vom 4. Juli 1879 (R.-G.-Bl. 1879, S. 165), § 3 wurden sowohl das 
Reichskanzleramt für Elsaß-Lothringen, eine dem Reichskanzler früher beigegebene 
oberste Verwaltungsbehörde für Elsaß-Lothringen, als auch das Oberpräsidium auf- 
elöst und ein „Ministerium für Elsaß-Lothringen“ in Straßburg errichtet, welches 
ie von dem Reichskanzleramt für Elsaß-Lothringen, vom Reichsjustizamt in der 
Verwaltung des Reichslandes, sowie vom Oberpräfidenten bisher geübten Obliegen- 
heiten wahrzunehmen hat. § 1 dieses Gesetzes bestimmt ferner: „Der Kaiser kann 
landesherrliche Befugnisse, welche ihm kraft Ausübung der Staatsgewalt in Elfaß- 
Lothringen zustehen, einem Statthalter übertragen. Der Statthalter wird vom 
Kaiser ernannt und abberufen. Er refidirt in Straßburg. — Der Umfang der dem 
Statthalter zu übertragenden landesherrlichen Befugnisse wird durch Kaiserliche 
Verordnung bestimmt.“ Sowohl die Ernennung wie die Abberufung als auch die 
Uebertragung landesherrlicher Befugnisse find Anordnungen des Kassers im Sinne 
des Art. 17 der Reichsverfassung und bedürfen daher zu ihrer Gültigkeit der Gegen- 
zeichnung des Reichskanzlers. Ernennung, Abberufung wie Bevollmächtigung des 
Statthalters liegen innerhalb der kaiserlichen Prärogative, ganz im freien Belieben 
des Kaisers. Aus den Worten „kann übertragen“ wird zu folgern sein, daß der 
Kaiser keinen Statthalter zu bestellen braucht, in welchem Falle dessen Befugnisse 
dem Kaiser selbst zustehen . Wenn dem Statthalter in verschiedenen Gesetzen be- 
1 Ebenso Löning, S. 78, Anm. 3, G. Meyer, § 139, Anm. 3, Zorn u. A. m.; anderer 
Ansicht Laband, kl, S. 710. 
 
	        
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