Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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stände zu schaffen, und zwar auf Grund eines Pro- 
gramms, an dessen Durchführung mitzuwirken 
allen Mächten ohne jeden Hintergedanken möglich 
und erwünscht ist. 
Es gab während der letzten fünf Lustren in der 
Geschichte Europas zwei voneinander streng ge- 
schiedene Epochen. In der ersten dieser Perioden 
befanden sich die beiden großen Allianzgruppen, 
in welche die Großmächte eingeteilt waren, in 
einer mehr oder minder offensichtlichen Gegner- 
schaft, und die Staatsmänner hatten die unein- 
gestandene Tendenz, damit zu rechnen, daß der 
Bruch eines dieser Systeme für die Staaten, die 
ihrer Leitung anvertraut waren, wünschenswert 
und vorteilhaft sein könne. In der zweiten Peri- 
ode aber gab man sich Rechenschaft, daß diese 
Allianzen, sich das Gleichgewicht haltend, eine 
Bürgschaft des Friedens sind, und man sucht nicht 
mehr, diese Gruppen zu deformieren, man ist be- 
strebt, sie durch weitere spezielle Ententen und durch 
ergänzende Ubereinkommen geschmeidiger, beweg- 
licher und tatkräftiger zu machen. Das österreichisch- 
russische, das französisch-italienische, das französisch- 
englische, das englisch-russische Abkommen, sie alle 
können als markante Erscheinungsformen dieser 
neuen Richtung gelten, die sich auch in dem wirt- 
schaftlichen Zusammenschluß der europäischen Staa- 
ten zu erkennen gibt, in der stetig zunehmenden 
  
Erkenntnis, daß ein allgemein geltender Zolltarif 
für ganz Europa nicht nur das beste Bindemittel 
für alle europäischen Staaten gegenüber der wirt- 
schaftlichen Machtfülle der amerikanischen Union, 
sondern auch ein erster Schritt zur Sicherung des 
Weltfriedens wäre. Für diese Friedfertigkeit ist 
auch das Nordsee-Abkommen vom Jahr 1908, eine 
nachbarschaftliche Allianz der Regierungen von 
Deutschland, Dänemark, Frankreich. Großbritan= 
nien, den Niederlanden und Schweden zwecks ge- 
genseitiger Respektierung der bestehenden Hoheits- 
rechte auf ihren Gebieten in jenen Gegenden, 
nötigenfalls der gemeinsamen Verteidigung des 
territorialen Besitzstandes daselbst, und das Ost- 
see-Abkommen vom Jahr 1908 zwischen Deutsch- 
land, Dänemark, Rußland und Schweden zur 
Aufrechterhaltung der territorialen Integrität aller 
gegenwärtigen Besitzungen in den an die Ostsee 
grenzenden Gegenden und des gemeinsamen Schutzes 
gegen Bedrohung ein erfreuliches Anzeichen. 
LLentner.) 
Allmende s. Agrargesetzgebung, Bauern- 
tand 
and. 
Allod, Allodifikation s. Lehnswesen. 
Altenteil s. Bauernstand. 
Altersversicherung s. Arbeiterversiche- 
rung, Invalidenversicherung. 
Altkatholiken s. Religionsgesellschaften. 
Altruismus. Unter diesem Namen (ab- 
geleitet von lateinisch alter = der andere) pflegt 
man seit Auguste Comte die auf selbstlose Förde- 
Allmende — Altruismus. 
  
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satz zu stellen zu allen nur auf den eigenen Vorteil 
abzielenden Willensmotiven des Egoismus. 
Diese moralphilosophische Grundunterscheidung 
hat unter andern Namen (kellow-feeling, Sym- 
pathie, Wohlwollen, soziales Fühlen bzw. selk- 
interest, Idiopathie, Selbstsucht, individualisti- 
sches Fühlen) schon lang vor Comte eine wichtige 
Rolle in der theoretischen Volkswirtschaftslehre ge- 
spielt, was bei deren Ursprung aus der englischen 
Moralphilosophie nicht wundernehmen kann. 
Die klassischen Nationalökonomen, namentlich 
Smith und Ricardo, setzen für das wirtschaft- 
liche Handeln des einzelnen den Egoismus als 
alleinmaßgebenden Beweggrund voraus und suchen 
aus ihm die Gesetzedes Wirtschaftslebens abzuleiten. 
Diesem Verfahren liegt nebst dem aus der 
englisch -empiristischen Psychologie stammenden 
Grundirrtum, daß sich das Willensverhalten des 
Menschen aus einer Mechanik seiner Triebe ab- 
leiten lasse, die künstliche Abstraktion eines reinen 
„Wirtschaftsmenschen“ (economical man nach 
John Stuart Mill) zugrunde, eines „zweibeinigen 
Hamsters“, wie er in Willmanns „Gesch. des 
Idealismus“ drastisch genannt wird. 
Von der historischen und historisch-ethischen 
Schule der Nationalökonomie (Roscher, Hermann, 
Schmoller und namentlich Knies) wurde aber 
nachgewiesen, daß diese Abstraktion nebst den dar- 
aus abgeleiteten Lehrsätzen den tatsächlichen Ver- 
hältnissen des Wirtschaftslebens nicht gerecht wird, 
daß insbesondere in das wirtschaftliche Verhalten 
des einzelnen auch altruistische Motive mitbestim- 
mend eingreifen. Die weitere Erkenntnis, daß 
Egoismus und Altruismus keine reinen Gegen- 
sätze sind, sondern in ihren mannigfachen Unter- 
arten sich als Bestimmungsfaktoren wirtschaft- 
lichen Verhaltens kombinieren und mischen, führt 
entweder zur Aufstellung eigener Mischbegriffe, 
wie des Mutualismus (Sax) und Solidarismus 
(H. Pesch), oder zur Abtrennung eigener charita- 
tiver Wirtschaftssysteme (Adolf Wagner) oder 
aber zu der wohl am meisten zutreffenden Einsicht, 
daß die Unterscheidung Altruismus—Egoismus 
für die begriffliche Grundlegung der theoretischen 
Volkswirtschaftslehre zweckmäßigerweise nicht in 
Frage kommt. 
Vonder faktischen Nachweisung und theoretischen 
Ableitung der im Wirtschaftsleben waltenden 
Gesetze grundverschieden ist die Erledigung einer 
Reihe von Grenzfragen der Ethik und Volkswirt- 
schaftslehre, in deren Behandlung das Begriffspaar 
Altruismus—Egoismus ebenfalls von jeher eine 
wichtige Rolle gespielt hat. Es genügt, hier zwei 
Hauptfragen in Betracht zu ziehen. Erstlich eine 
mehr objektive: Ist die wirtschaftliche Wohlfahrt 
der Gesamtheit mitabhängig von der sittlichen Ge- 
sinnung der einzelnen, insbesondere von ihrer Zu- 
gänglichkeit für altruistische Willensmotive? Zwei- 
tens die mehr subjektive Frage: Ist es sittliche 
rung der Mitmenschen gerichteten Willensantriebe Pflicht des einzelnen, die Rücksicht auf die Wohl- 
zusammenzufassen und sie damit in reinen Gegen= fahrt anderer und der Gesamtheit miteinzubeziehen
	        
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