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deutsch. Verwaltungsrechts; Olshausen, Kommentar
zum Strafgesetzbuch (2 Bde, 1905/06); Oppenhoff,
Strafgesetzbuch (771901, hrsg. von Delius); Pieper,
Das Reichsbeamtengesetz (21901); Stenglein, Lexi-
kon des deutschen Strafrechts (2 Bde, 1900); Ver-
gleichende Darstellung des deutschen u. ausländischen
Strafrechts IX (1906). lSpahn.]
Amtsverschwiegenheit f. Dienstge-
heimnis.
Analphabeten s. Unterrichtswesen.
Anarchismus. Das Wesen des Anarchis-
mus ist Auflehnung gegen jede Autorität und jeden
Rechtszwang; nur das, was die einzelne Persön-
lichkeit nach „vernünftigem und gerechtem“ Er-
messen für gut hält, soll gelten, an Stelle von Recht
und Gesetz soll der freie Wille treten. Dabei will
man allerdings nicht auf jede gesellschaftliche Ord-
nung verzichten, doch soll als deren Grundlage
nicht rechtlicher Zwang, sondern die freiwillige
Vereinigung, der freie stets kündbare Vertrag
treten. Seine philosophische Grundlage hat der
Anarchismus dem extremen Liberalismus entlehnt,
nur geht er über die liberale Doktrin, daß nur
aus vollständiger Freiheit ein harmonisches Zu-
sammenwirken der einzelnen Individuen sich er-
gebe, noch hinaus und erklärt nicht nur das staat-
liche Einwirken auf das wirtschaftliche Leben,
kichen überhaupt die staatliche Fürsorge für über-
üssig.
Daraus erhellt, daß der Anarchismus eigentlich
keine Abart des Sozialismus ist, da dieser die
Freiheitssphäre der Einzelpersonen durch eine un-
sere heutige gesellschaftliche Ordnung an Schärfe
weit übertreffende Zwangsorganisation sehr be-
grenzt. Die Politik der rohen Gewalt und des
Verbrechens ist nicht wesentlich mit dem Anarchis-
mus verbunden.
Umfassendere anarchistische Ideen finden wir
zuerst bei dem englischen Dissidentenprediger
William Godwin (1756/1836). Als „Vater
des Anarchismus“ gilt jedoch Proudhon ((. d.
Art.), trotzdem dieser sein anarchistisches System
in den reiferen Jahren aufgab. Nach Proudhon
sind alle Menschen von Natur und ihrer Bestim-
mung nach gleich, frei und autonom. Die Aus-
beutung des Menschen durch den Menschen ist
Diebstahl, die Regierung des Menschen durch den
Menschen Sklaverei. Beseitigung jeglicher Autori-
tät und aller Parteien sowie absolute Freiheit des
Menschen ist daher Proudhons Ziel. Dessen Er-
reichung erstrebt er im friedlichen Umwandlungs-
prozef der bestehenden Ordnung durch Veränderung
der wirtschaftlichen Verhältnisse, namentlich durch
Durchführung des Prinzips der Gegenseitigkeit
(Mutualismus), Unentgeltlichkeit des Kredits,
Schaffung autonomer Produktivassoziationen usw.
Später (in seinem Werk Du principe féödéra-
tif, 1863) erklärte Proudhon den Anarchismus
als ein nie zu verwirklichendes Ideal; die richtige
Regierungsform sei der Föderalismus, d. h. eine
dezentralisierte, aus auf Grund des allgemeinen
Amtsverschwiegenheit — Anarchismus.
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Stimmrechts gewählten Abgeordneten zusammen-
# gesetzte Regierung und die Bildung vieler kleiner
GEruppen mit weitestgehender Selbstverwaltung.
Nächst Proudhon ist als einflußreicher Theoretiker
des Anarchismus zu nennen Joh. Kaspar Schmidt
(1806/56), bekannt unter dem Pseudonym Max
Stirner, der Sohn eines Bayreuther Instru-
mentenmachers; zuerst Gymnasiallehrer, starb er
im größten Elend als Privatgelehrter. Stirner
vertrat einen absoluten individualistischen Anarchis-
mus ohne Gemeineigentum; er ist der einzige Ver-
treter der älteren Richtung, der für die Anwendung
der Gewalt eintritt. Die Rettung sei in der
Emanzipation des Individuums, des Ich, zu
finden. „Was du zu sein die Macht hast, dazu
hast du auch das Recht.“ Außer dem Ich gebe es
kein Recht. Der Egoismus, „die Selbstwertung
des Ich“, allein kann dem Volk („dem Pöbel“)
Hilfe bringen. Nur in ganz losen „Vereinen der
Egoisten“ dürfen die Menschen sich zusammen-
schließen. Andere deutsche Vertreter des älteren
Anarchismus sind Moses Heß, der den Weit-
lingschen Kommunismus mit Proudhonschen Leh-
ren zu verbinden suchte, Karl Grün, der dem
Anarchismusgleichfallseinekommunistische Grund-
lage geben wollte, und Wilhelm Marr, der
namentlich für die soziale Revolution und die
atheistische Propaganda eintrat.
Abgesehen von einem vorübergehenden Einfluß
Proudhons auf die Arbeitermassen hat der ältere
Anarchismus fast gar keine praktischen Erfolge er-
zielt. Erst dem neueren oder politischen
Anarchismus war dies vorbehalten. Derselbe be-
ruht auf einer Verbindung von Elementen der
älteren Richtung mit dem russischen Nihilis-
mus,p der die heutige Gesellschaftsordnung, weil
sie heilungsunfähig sei, vollständig beseitigen und
aus den Trümmern die wiedergeborne Menschheit
glücklich und frei hervorgehen lassen will. Die
Verschmelzung wurde namentlich von den drei
Russen Bakunin, Netschajew und Kropotkin voll-
zogen. Bakunin (1814/76), zuerst russischer
Artillerieoffizier, dann Student und später Literat,
nahm 1849 an den revolutionären Vorgängen in
Prag und Dresden teil, wurde in Osterreich zum
Tod verurteilt, aber an Rußland ausgeliefert
und nach Sibirien verbannt. Von hier floh er
nach England und hielt sich später in der Schweiz
auf. Durch Proudhons Schriften wurde er für
den Anarchismus gewonnen; er rief eine solch ge-
waltige anarchistische Massenbewegung hervor, daß
er als der Begründer der anarchistischen Partei
gelten kann. Unentbehrliche Voraussetzung des
Anarchismus ist für Bakunin der moderne Atheis-
mus, besonders der Darwinismus; seine Theorie
ist denn auch eine Entwicklungslehre auf materia-
listischer Grundlage. „An Stelle des Staates
schlechthin soll die völlig staatlose freie Gesellschaft
treten mit Kollektiveigentum an den Produktions-
mitteln, aber mit einer Organisation der Gesell-
schaft und des Gesellschaftseigentums von unten