Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Propaganda der Tat ihre Anhänger aber erst 
infolge der Agitation Mosts. Ein blutiger Auf- 
stand in Chicago (1886) zwang die Staatsgewalt 
zu energischem Vorgehen. Seitdem ist der Anar- 
chismus sehr zurückgegangen; im Jahr 190I fiel 
allerdings der Präsident Mac Kinley einem anar- 
chistischen Attentat zum Opfer. Große Ausdeh- 
nung hat der Anarchismus dagegen in den Län- 
dern romanischer Zunge genommen. In Ita- 
lien, Spanien und Frankreich bestehen umfang- 
reiche anarchistische Organisationen, deren blutige 
Taktik zahlreiche Attentate, auch außerhalb der 
romanischen Gebiete begangen, kennzeichnen. In 
Rußland trat an Stelle des Anarchismus der 
Nihilismus und die revolutionäre Bewegung der 
neuesten Zeit, die Propaganda der Tat hat hier 
die meisten Opfer gefordert. 
Die anarchistische Doktrin bedarf keiner ein- 
gehenden Widerlegung; sie geht von unhaltbaren 
Voraussetzungen aus, sie ist voller Widersprüche 
in sich selbst und absurd in ihren Forderungen. 
Die Menschen sind durchaus nicht ohne natürliche 
Leidenschaften, nicht von Natur aus absolut gut. 
Keine Ordnung ist ohne Einheit und Unterord- 
nung, keine Organisation irgend welcher Art 
ohne autoritative Machtbefugnisse denkbar. Jeder 
Vertrag fordert einen Verzicht auf die absolute 
Selbständigkeit und einen gewissen Zwang zur In- 
nehaltung der eingegangenen Verpflichtungen. 
Die Quellen, aus denen der Anarchismus wie 
der Sozialismus schöpften, sind ohne Zweifel nicht 
in Abrede zu stellende Mißstände des sozialen Le- 
bens, das wirtschaftliche Elend gewisser Volks- 
schichten, in noch weit höherem Maß aber liegt 
die Ursache in der atheistischen Wissenschaft. Aus 
ihren Lehren haben nicht nur Marx und Lassalle, 
die Apostel des Sozialismus, die weiteren Konse- 
quenzen gezogen, auch die Theoretiker des Anar- 
chismus sind ihre gelehrigen Schüler gewesen. 
Soziale Reformen, Aufklärung der Massen 
über Art und Ziele der anarchistischen Politik, 
nicht zum wenigsten aber auch die Bekämpfung 
aller materialistischen Weltanschauung sind deshalb 
in erster Linie geeignet, die aus dem Anarchismus 
drohende Gefahr zu überwinden. Daneben kommt 
auch, weniger gegenüber der anarchistischen Theorie 
als der anarchistischen Taktik, die Gesetzgebung, 
vor allem die Strafgesetzgebung in Betracht. Das 
gemeine Strafrecht ist seit den 1870er Jahren 
hinsichtlich gewisser Verbrechen gegen die Person 
und das Eigentum oder, namentlich in Frank- 
reich, hinsichtlich „zu anarchistischen Zwecken“ be- 
gangener Verbrechen verschärft worden. Dazu 
kommen noch Gesetze gegen die politische Pro- 
paganda, in Frankreich auch Verbote der Bericht- 
erstattung von Parteivorträgen aus anarchistischen 
Prozessen, ferner besondere Gesetze gegen den ver- 
brecherischen und gemeingefährlichen Gebrauch von 
Sprengstoffen u. dgl. Für die Aufspürung anar- 
chistischer Schlupfwinkel und zur Aufdeckung ter- 
roristischer Pläne ist eine wachsame und findige 
  
  
Anatozismus — Andorra. 
  
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Polizei von großem Wert. Eine internationale 
Gesetzgebung gegen den Anarchismus ist verschie- 
dentlich erstrebt worden; sie soll namentlich gleich- 
mäßige Grundsätze für die Beurteilung anar- 
chistischer Verbrechen und die Unzulässigkeit des 
ziglrecht, wie es England noch gewährt, ent- 
alten. 
Literatur. Anarchistische Werke: Die Werke 
von Prondhon (s. d.) u. Bakunin (vollständiges 
Verzeichnis bei Rettlau, Bibliographie de l'anar- 
chisme, Brüssel 1897); ferner Stirner, Der Einzige 
u. sein Eigentum (1845, 1901; auch bei Reclam); 
Tucker, Instead of a book (Neuyork 1893; deutsch 
von Schumm unter d. Titel: Staatssozialismus u. 
A., 1895); Kropotkin, L'anarchie, sa philosophie, 
son idéal (Par. #1905); ders., Autour d'une vie 
(ebd. 71903, deutsch von Pannwitz unter d. Titel: 
Memeoiren eines Revolutionärs, 2 Bde, 1900); 
Reclus, L'éCvolution, la révolution et Pidéal an- 
archique (ebd. 1897, I1902); John Most, Me- 
moiren (Neuyork 1903). — Kritische Werke: 
Stammler, Theorie des A. (1894); Zenker, Der A. 
(1895); Adler, Art. „A.“ im Handwörterb. der 
Staatswissenschaften (31908 ff); H. Pesch, Die 
soziale Frage, beleuchtet durch die Stimmen aus 
Maria-Laach (Hft 14/16, 1900); ders., Lehrb. der 
Nationalökonomie 1 (1905); Seuffert, A. u. Straf- 
recht (1899); Bernstein, Die soziale Doktrin des 
A. (in Neue Zeit, 10. Jahrg.); Eltzbacher, Der A. 
(1900); Langhard, Die anarchist. Bewegung in der 
Schweiz u. die internat. Führer (1903); Borgius, 
Ideenwelt des A. (1904); Diehl, über Sozialis- 
mus, Kommunismus u. A. (1906); Biermann, 
A. u. Kommunismus (1906); W. Schäfer, Aus 
einem anarchist. Idealstaat (1906); Ettore Zoccoli, 
L'Anarchia (Rom 1907, deutsch von A. Roller, 
1908); Geo Adler, Stirners anarchist. Sozial- 
theorie (1907); Cornelissen, Über die Evolution 
des A., im Archiv für Sozialwissenschaft XXVI 
(1908) 343 ff. Vgl. auch die Werke über Proudhon 
(s. d. Art.). lSacher.) 
Anatozismus s. Wucher und Zins. 
Andorra,. kleine aristokratische Republik am 
Südabhang der östlichen Pyrenäen, zwischen den 
französischen Departements Ariège und Pyrénées- 
Orientales und der spanischen Provinz Lérida. 
Schon Karl d. Gru soll diesen Freistaat gegründet 
und unter den Schutz des Bischofs von Seo 
de Urgel gestellt haben; von Ludwig dem Frommen 
wurde er als solcher 805 anerkannt. Zu Anfang 
des 11. Jahrh. belehnten die Bischöfe die Herren 
von Cabout mit den Tälern von Andorra, hatten 
aber später mit ihnen lange Kämpfe um die Besitz- 
rechte. Diese vererbten sich 1278 auf die Grafen 
von Foix, welche sie später auch als Grafen von 
Béarn und Könige von Navarra mit dem Titel 
„Souveräne Fürsten des Tales von Andorra" 
behaupteten. Mit Heinrich IV. ging die Ober- 
hoheit an Frankreich über, welches auch heute noch 
in Gemeinschaft mit dem Bischof von Urgel das 
Protektorat über das neutrale Ländchen ausübt.— 
Der Flächeninhalt Andorras beträgt 452 qkm 
mit etwa 6000 Einwohnern (durchschnittlich 13 
auf 1 qkm), die in 40 Ortschaften und Weilern
	        
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