Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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züge des Anerbenrechts auf der andern Seite er- 
wägt, so wird man nicht leugnen können, daß 
erstere die Gefahr in sich birgt, daß entweder das 
moralisch verwerfliche Zweikindersystem sich auf 
dem Land verbreitet oder der Grundbesitz der 
Zersplitterung verfällt, das Anerbenrecht aber ge- 
eignet erscheint, die Grundlage für die Erhaltung 
eines tüchtigen, seßhaften Bauernstands zu bieten. 
Trotz dieser Vorteile des einen und der Nach- 
teile des andern Systems läßt sich dennoch die 
Frage nach der Zweckmäßigkeit einer allgemeinen 
Durchführung des Anerbenrechts nicht absolut 
bejahen, weil für diejenigen Gegenden, in denen 
die gleiche Teilung dem Gewohnheitsrecht ent- 
spricht, unüberwindliche Schwierigkeiten einer Ein- 
führung, als im Widerspruch mit der Volksan- 
schauung, sich entgegenstellen. Es ist unzweifelhaft 
richtig, was Otto Fischer (Das Anerbenrecht 
in Deutschland, im „Hochland“ 1906/07 I 
726 ff) sagt: „Das Anerbenrecht wirkt segensreich 
da, wo es der Volkssitte entspricht, und ist hier 
Möglichst auch durch die Gesetzgebung zu pflegen. 
Man wird es aber Gegenden und Stämmen, 
deren Anschauungen nicht dafür gewonnen sind, 
nicht aufdrängen können."“ 
Literatur. Von den Schriftstellern, welche 
diese Rechtsinstitution am eingehendsten und gründ-- 
lichsten behandelt haben, nennen wir Karl Friedr. 1 
Eichhorn, Einleitung in das deutsche Privatrecht 
(51845); Mittermaier, Grundsätze des gemeinen 
deutschen Privatrechts (2 Bde, 1846. 47); C. F.C 
v. Gerber, System des dtsch. Privatrechts G#71895); 
ferner: Pfeiffer, Meier-Recht (1848); Beaulieu- 
Marconnay, Das bäuerliche Grunderbrecht (1870); 
Meyersburg, Hannöverisches Höferecht (1875); 
Münchmeyer, Das Höfegesetz (1881); Baernreither, 
Stammgütersystem u. A.# urecht in Deutschl. (1882); 
Enneccerus, Höferecht für Hessen (1882); Helferich, 
Bäuerliche Erbfolge (1883); A. Miaskowski, Das 
Erbrecht u. die Grundeigentumsverteilung im Deut- 
schen Reich (Schriften des Vereins für Sozialpol. 
XX (1882) u. XXV (1884)); C. v. Peyrer, Denk- 
schrift betr. Erbfolge in landwirtsch. Güter u. Heim- 
stättenrecht (1884); v. Inama-Sternegg, Zur 
Reform des A. urechts (Grünhuts Zeitschrift X 
11883)); Kleinwächter, Die österreich. Enquete über 
das A. urecht (Schmollers Jahrbuch IX I18851); 
v. Schulze-Gävernitz, Bäuerliche Erbfolge (An- 
nalen des Deutschen Reichs 1884); Frommhold, 
Rechtl. Natur des A.nrechts (1885); ders., Deut- 
sches A.nrecht (1896); Miaskowski, A. nrecht (Jahrb. 
für Nat.-Okon. XII (18867); Stengele, Bedeutung 
des A. nrechts für Süddeutschland (1894); Fick, 
Bäuerl. Erbfolge im rechtsrhein. Bayern (1895); 
Frhr. v. Freyberg-Intzendorf, Bäuerl. Erbfolge im 
rechtsrhein. Bayern (1895); Dulfzig, Deutsches 
Grunderbrecht (1899); Sering, Vererbung des 
ländl. Grundbesitzes im Kgr. Preußen (15 Bde, 
1897/1907); Peltasohn, Rentenguts= u. Arngesetz- 
gebung in Preußen (1903); Art. „Vererbung des 
ländlichen Grundbesitzes“ in Elsters Wörterbuch 
der Volkswirtschaft II (21906/07); Cramer, Der 
Einfluß des A. nrechts auf Verschuldung u. Besitz- 
erhaltung (1908). 
[Wichmann, rev. Faßbender.) 
  
  
Anerkennung. 
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Anerkennung, völkerrechtliche. Die 
Anerkennung eines Staats (reconnaissance) ist 
kein Postulat des Völkerrechts, ebensowenig wie 
jene der Existenzberechtigung der Person ein 
Postulat des bürgerlichen Rechts ist. Besitzt ein- 
mal eine völkerschaftliche Vereinigung zur Siche- 
rung und Ordnung ihrer Lebensgemeinschaft Be- 
stand und territoriale Begrenzung, so ist eine 
staatliche Gesamtpersönlichkeit vorhanden und die- 
selbe auch als Mitglied der Staatengemeinschaft 
legitimiert. Jeder Staat hat als freieigene und 
lebensfähig organisierte Volksperson nicht nur ein 
staatsrechtliches, sondern auch ein völkerrechtliches 
Dasein. Die Tatsache der Entstehung und Ent- 
wicklung der Staaten ist zunächst eine geschicht- 
liche; an diesem historischen Prozeß haben Re- 
ligion, Volkstüchtigkeit und Volkssitte neben den 
Rechtsschöpfungen gebührenden Anteil. Freiheit 
und Unabhängigkeit eines Staats werden nicht 
verliehen noch zugestanden, sondern erworben und 
erkämpft. Auf Grund dieses tatsächlichen Ver- 
hältnisses hat jeder Staat, ob groß oder klein, als 
moralische Person, und über die Machtmittel 
seiner Existenz verfügend, den gleichen Anspruch 
auf Anerkennung seines Daseins und seiner Per- 
sönlichkeitsrechte. Die völkerrechtliche Anerkennung 
eines Staats ist daher nicht die Entscheidung über 
dessen Existenzberechtigung, sondern nur die Er- 
klärung, ihn als ebenbürtiges Mitglied der be- 
stehenden Staatengenossenschaft und ihrer gewohn- 
heitlichen wie vertragsmäßigen Rechtsgemeinschaft 
zu betrachten. Daher der Satz, die Anerkennung 
habe nur deklaratorische, nicht konstitutive Bedeu- 
tung. — Ein neu entstandenes oder aus seiner 
früheren Abgeschlossenheit heraustretendes Staats- 
wesen muß, um die besondern Rechte und Ver- 
bindlichkeiten der Staatengemeinschaftbeanspruchen 
zu können, in dieselbe aufgenommen werden. Eine 
solche Aufnahme kann jedoch in Ermanglung einer 
über den Staaten stehenden Zentralgewalt nur 
durch die einzelnen Staaten oder auch durch einen 
kollektiven Schritt mehrerer Staaten erfolgen. — 
Die Denkwürdigkeiten des Völkerrechts sind reich 
an Beispielen für solche Anerkennungen oder Ap- 
probationen. Es sei erinnert an die Anerkennung 
der nordamerikanischen Munizipalstaaten, zunächst 
durch Frankreich 1778, dann durch die Verträge 
von Versailles 1783 und das Abkommen zwischen 
Frankreich und England über die Seerechts- und 
Handelsverhältnisse mit der neuen Union 1786; 
ferner an die Anerkennung der südamerikanischen 
Staaten durch England 1825, an die für Mexiko 
abträgliche Anerkennung von Texas durch Eng- 
land 1839, Ereignisse, welche bei Wheaton (Ele- 
ments of International Law) und dessen Kom- 
mentator Lawrence, ferner bei Phillimore, Flassan 
u. a. eingehend besprochen sind. Durch Vertrag 
vom 6. Juli 1827 zwischen England, Frankreich 
und Rußland (Tripelallianz) wurde Griechenland 
völkerrechtlich als selbständiger Staat anerkannt, 
im Jahr 1830 das Königreich Belgien, ungeachtet
	        
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