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Er befindet sich in der Lage eines Kaufmanns,
der seine Ware um jeden Preis losschlagen muß.
Der Käufer weiß das, und es ist so die Gefahr
wucherischer Ausbeutung der Notlage nicht aus-
geschlossen. Dann aber — und das ist viel ver-
hängnisvoller — ist das Angebot der Arbeit fast
stets größer als die Nachfrage. Da nun der
Arbeitgeber in dem Absatz seiner Produkte dem
Gesetz von Angebot und Nachfrage unterstellt ist,
die Arbeitslöhne aber den wesentlichsten Faktor
der Produktionskosten bilden, so kann der einzelne
Arbeitgeber sich beim besten Willen auch in der
Bestimmung der Löhne dem Gesetz von Angebot
und Nachfrage nie ganz entziehen. Der Preis
der Produkte bildet die absolute Schranke. — Ist
auf dem Warenmarkt die Nachfrage größer als
das Angebot, so steigt der Preis des betreffenden
Produkts, und es vergrößert sich der Gewinn des
Unternehmens; ist aber das Angebot größer als
die Nachfrage, so sinkt der Preis bis auf und
vielleicht bis unter die Produktionskosten. In
letzterer Lage befindet sich nun aber in der Regel
der Arbeiter. Seine Produktionskosten sind —
der Lebensunterhalt; selten kommt er über diese
hinaus. Was auf dem Warenmarkt die Über-
produktion, das ist auf dem Arbeitsmarkt die
sog. Ubervölkerung. Die Uberproduktion auf dem
Warenmarkt findet schnell ihre Korrektur in der
Selbstbeschränkung der Unternehmer. Sobald die
Produktion „unproduktiv“ wird, keinen Gewinn
mehr abwirft, wird dieselbe eingeschränkt; da-
gegen sind Familiensinn und Fortpflanzungs-
trieb so stark, daß die Bevölkerung progressiv
steigt, ohne Rücksicht darauf, ob auch noch Platz,
Verwendung auf dem Arbeitsmarkt ist, ob die
„Produktionskosten“ gedeckt werden oder nicht.
Im großen und ganzen vermögen nur Not und
Tod dieser Entwicklung Schranken zu setzen.
Das Resultat ist eben das „eherne Lohngesetz“,
welches Lassalle dahin präzisiert: daß unter den
heutigen Verhältnissen von Angebot und Nach-
frage der durchschnittliche Arbeitslohn immer
auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert
bleibt, der in einem Volk gewohnheitsmäßig zur
Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung er-
forderlich ist. „Dies ist der Punkt, um welchen
der wirkliche Taglohn in Pendelschwingungen
jederzeit herum gravitiert, ohne sich jemals lange
weder über denselben erheben noch unter denselben
herunterfallen zu können. Er kann sich nicht dau-
ernd über diesen Durchschnitt erheben; denn sonst
entstände durch die leichtere, bessere Lage der Ar-
beiter eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung
und somit des Angebots von Händen, welche den
Arbeitslohn wieder auf und unter seinen früheren
Stand herabdrücken würde. Der Arbeitslohn kann
aber auch nicht dauernd tief unter diesen not-
wendigen Lebensunterhalt fallen; denn dann ent-
stände Auswanderung, Ehelosigkeit, Enthaltung
von Kindererzeugung und endlich eine durch Elend
erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche
Arbeiterfrage.
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somit das Angebot von Arbeitshänden verringert
und den Arbeitslohn wieder zu seinem früheren
höheren Stand zurückbringt.“ Dieses sog. eherne
Lohngesetz ist nun zwar weder ein „Naturgesetz“
noch ein „ökonomisches Gesetz“, da einerseits so-
wohl sittliche und Standesrücksichten (Zölibat)
wie unsittliche Mittel (Prostitution, Zweikinder-
system) die Volksvermehrung hemmen können,
anderseits die Kapitalvermehrung und das Auf-
blühen der Industrie (mit Export) die Nachfrage
außerordentlich steigern kann; aber tatsächlich be-
steht die Tendenz einer starken Vermehrung der
Arbeiterbevölkerung. Das eherne Lohngesetz ist
eine spezielle Anwendung der Malthusschen Be-
völkerungstheorie: daß, während die Produktion
der Lebensmittel eines Landes unter den günstigsten
Umständen nur in arithmetischer Progression
(1:3:5:7) sich steigern könne, die Volksver-
mehrung die Tendenz habe, in geometrischer Pro-
gression (2:4:8:16) zu wachsen. Auch die
Malthussche Theorie ist kein „Gesetz“ und in der
Formulierung falsch: dank der reichen Einfuhr
landwirtschaftlicher Produkte aus fremden Welt-
teilen sinkt sogar die heimische Grundrente; aber
das Malthussche Gesetz wie das eherne Lohn-
gesetz beleuchten doch den Ernst der Aufgabe, der
rasch anwachsenden Bevölkerung Arbeit und Brot
zu sichern.
Während einerseits das Angebot der Hände
stetig wächst, hält die Nachfrage nicht mit der stei-
genden Produktion Schritt, sondern vermindert
sich vielleicht sogar, indem durch die Fortschritte
der Technik und der (angewandten) Wissen-
schaft stetig Arbeitskräfte gespart („freigesetzt“)
werden („relative Ubervölkerung"), die dann das
Angebot in andern Branchen vermehren und so
die Löhne drücken. Nachdem die Sozialdemokraten
das (Lassallesche) „eherne Lohngesetz“ (seit dem
Erfurter Parteitag, 1891) haben fallen lassen,
betonen sie um so mehr die „relative Übervölke-
rung" (von Marx) und machen die so entstehende
industrielle Reservearmee der Arbeits-
losen für die traurigen Arbeiterverhältnisse ver-
antwortlich.
Der Arbeiter verkauft nicht die „vergegenständ-
lichte" Arbeit, das Arbeitsprodukt, wie der Hand-
werker oder Bauer, sondern die Arbeits kraft, die
von seiner Person unzertrennlich ist. So ist er
zunächst in Verwertung seiner „Ware“ Arbeit
lokal beschränkt, gebunden. Er kann seine „Ware“
nicht versenden, nicht fremde Märkte aufsuchen,
um die günstigen Marktverhältnisse dort aus-
zunutzen. Namentlich der Familienernährer besitzt
nicht die Mittel, durch Wechsel des Wohnorts
die Konjunkturen auszunutzen. Die Liebe zu
Heimat und Verwandtschaft, die Rücksicht auf den
ererbten oder erworbenen und so doppelt werten
Besitz eines Häuschens, eines Stück Landes halten
gerade den solideren, besseren Arbeiter zurück. Der
Arbeiter ist auch zeitlich gebunden; er kann seine
Arbeit nicht aufspeichern, nicht warten, bis gün-