Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Er befindet sich in der Lage eines Kaufmanns, 
der seine Ware um jeden Preis losschlagen muß. 
Der Käufer weiß das, und es ist so die Gefahr 
wucherischer Ausbeutung der Notlage nicht aus- 
geschlossen. Dann aber — und das ist viel ver- 
hängnisvoller — ist das Angebot der Arbeit fast 
stets größer als die Nachfrage. Da nun der 
Arbeitgeber in dem Absatz seiner Produkte dem 
Gesetz von Angebot und Nachfrage unterstellt ist, 
die Arbeitslöhne aber den wesentlichsten Faktor 
der Produktionskosten bilden, so kann der einzelne 
Arbeitgeber sich beim besten Willen auch in der 
Bestimmung der Löhne dem Gesetz von Angebot 
und Nachfrage nie ganz entziehen. Der Preis 
der Produkte bildet die absolute Schranke. — Ist 
auf dem Warenmarkt die Nachfrage größer als 
das Angebot, so steigt der Preis des betreffenden 
Produkts, und es vergrößert sich der Gewinn des 
Unternehmens; ist aber das Angebot größer als 
die Nachfrage, so sinkt der Preis bis auf und 
vielleicht bis unter die Produktionskosten. In 
letzterer Lage befindet sich nun aber in der Regel 
der Arbeiter. Seine Produktionskosten sind — 
der Lebensunterhalt; selten kommt er über diese 
hinaus. Was auf dem Warenmarkt die Über- 
produktion, das ist auf dem Arbeitsmarkt die 
sog. Ubervölkerung. Die Uberproduktion auf dem 
Warenmarkt findet schnell ihre Korrektur in der 
Selbstbeschränkung der Unternehmer. Sobald die 
Produktion „unproduktiv“ wird, keinen Gewinn 
mehr abwirft, wird dieselbe eingeschränkt; da- 
gegen sind Familiensinn und Fortpflanzungs- 
trieb so stark, daß die Bevölkerung progressiv 
steigt, ohne Rücksicht darauf, ob auch noch Platz, 
Verwendung auf dem Arbeitsmarkt ist, ob die 
„Produktionskosten“ gedeckt werden oder nicht. 
Im großen und ganzen vermögen nur Not und 
Tod dieser Entwicklung Schranken zu setzen. 
Das Resultat ist eben das „eherne Lohngesetz“, 
welches Lassalle dahin präzisiert: daß unter den 
heutigen Verhältnissen von Angebot und Nach- 
frage der durchschnittliche Arbeitslohn immer 
auf den notwendigen Lebensunterhalt reduziert 
bleibt, der in einem Volk gewohnheitsmäßig zur 
Fristung der Existenz und zur Fortpflanzung er- 
forderlich ist. „Dies ist der Punkt, um welchen 
der wirkliche Taglohn in Pendelschwingungen 
jederzeit herum gravitiert, ohne sich jemals lange 
weder über denselben erheben noch unter denselben 
herunterfallen zu können. Er kann sich nicht dau- 
ernd über diesen Durchschnitt erheben; denn sonst 
entstände durch die leichtere, bessere Lage der Ar- 
beiter eine Vermehrung der Arbeiterbevölkerung 
und somit des Angebots von Händen, welche den 
Arbeitslohn wieder auf und unter seinen früheren 
Stand herabdrücken würde. Der Arbeitslohn kann 
aber auch nicht dauernd tief unter diesen not- 
wendigen Lebensunterhalt fallen; denn dann ent- 
stände Auswanderung, Ehelosigkeit, Enthaltung 
von Kindererzeugung und endlich eine durch Elend 
erzeugte Verminderung der Arbeiterzahl, welche 
Arbeiterfrage. 
  
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somit das Angebot von Arbeitshänden verringert 
und den Arbeitslohn wieder zu seinem früheren 
höheren Stand zurückbringt.“ Dieses sog. eherne 
Lohngesetz ist nun zwar weder ein „Naturgesetz“ 
noch ein „ökonomisches Gesetz“, da einerseits so- 
wohl sittliche und Standesrücksichten (Zölibat) 
wie unsittliche Mittel (Prostitution, Zweikinder- 
system) die Volksvermehrung hemmen können, 
anderseits die Kapitalvermehrung und das Auf- 
blühen der Industrie (mit Export) die Nachfrage 
außerordentlich steigern kann; aber tatsächlich be- 
steht die Tendenz einer starken Vermehrung der 
Arbeiterbevölkerung. Das eherne Lohngesetz ist 
eine spezielle Anwendung der Malthusschen Be- 
völkerungstheorie: daß, während die Produktion 
der Lebensmittel eines Landes unter den günstigsten 
Umständen nur in arithmetischer Progression 
(1:3:5:7) sich steigern könne, die Volksver- 
mehrung die Tendenz habe, in geometrischer Pro- 
gression (2:4:8:16) zu wachsen. Auch die 
Malthussche Theorie ist kein „Gesetz“ und in der 
Formulierung falsch: dank der reichen Einfuhr 
landwirtschaftlicher Produkte aus fremden Welt- 
teilen sinkt sogar die heimische Grundrente; aber 
das Malthussche Gesetz wie das eherne Lohn- 
gesetz beleuchten doch den Ernst der Aufgabe, der 
rasch anwachsenden Bevölkerung Arbeit und Brot 
zu sichern. 
Während einerseits das Angebot der Hände 
stetig wächst, hält die Nachfrage nicht mit der stei- 
genden Produktion Schritt, sondern vermindert 
sich vielleicht sogar, indem durch die Fortschritte 
der Technik und der (angewandten) Wissen- 
schaft stetig Arbeitskräfte gespart („freigesetzt“) 
werden („relative Ubervölkerung"), die dann das 
Angebot in andern Branchen vermehren und so 
die Löhne drücken. Nachdem die Sozialdemokraten 
das (Lassallesche) „eherne Lohngesetz“ (seit dem 
Erfurter Parteitag, 1891) haben fallen lassen, 
betonen sie um so mehr die „relative Übervölke- 
rung" (von Marx) und machen die so entstehende 
industrielle Reservearmee der Arbeits- 
losen für die traurigen Arbeiterverhältnisse ver- 
antwortlich. 
Der Arbeiter verkauft nicht die „vergegenständ- 
lichte" Arbeit, das Arbeitsprodukt, wie der Hand- 
werker oder Bauer, sondern die Arbeits kraft, die 
von seiner Person unzertrennlich ist. So ist er 
zunächst in Verwertung seiner „Ware“ Arbeit 
lokal beschränkt, gebunden. Er kann seine „Ware“ 
nicht versenden, nicht fremde Märkte aufsuchen, 
um die günstigen Marktverhältnisse dort aus- 
zunutzen. Namentlich der Familienernährer besitzt 
nicht die Mittel, durch Wechsel des Wohnorts 
die Konjunkturen auszunutzen. Die Liebe zu 
Heimat und Verwandtschaft, die Rücksicht auf den 
ererbten oder erworbenen und so doppelt werten 
Besitz eines Häuschens, eines Stück Landes halten 
gerade den solideren, besseren Arbeiter zurück. Der 
Arbeiter ist auch zeitlich gebunden; er kann seine 
Arbeit nicht aufspeichern, nicht warten, bis gün-
	        
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