Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Haftung usw. eine Konzentration und Vergröße- 
rung der Betriebe zugleich mit einer Dezentrali- 
sation des Besitzes, indem auch Arbeiter und Klein- 
bürger sich Anteile erwerben können. — Was die 
Bildung von Kartellen und Trusts anlangt, so 
sichern sie zunächst mehr Stetigkeit und Ordnung 
in der Produktion und kommen so auch den Ar- 
beitern zugut. Ihre Macht muß durch eine ebenso 
starke, geschlossene, gewerkschaftliche Organisation 
der Arbeiter ihr Gegengewicht finden. — Aufgabe 
der Gesetzgebung und Verwaltung wird es sein, 
durch strenge Aussicht (Reichskartellamt) und wirt- 
schaftliche Maßnahmen und, falls es notwendig 
wird, durch bindende Entscheidungen den Miß- 
bräuchen Schranken zu setzen. 
2. Die Konzentration der Bevpölke- 
rung in den Städten und Industriezentren er- 
fordert eine weit ausschauende Wohnungs- 
fürsorge. Es kann und muß durch eine von 
sozialen Gesichtspunkten geleitete Verkehrs- 
politik: Bau von Eisenbahnen, von Dampf- 
und elektrischen Bahnen, billige Frachten usw., 
durch Nutzbarmachung der Wasserkräfte (Tal- 
sperren usw.), durch Minimalanforderungen be- 
züglich der städtischen Wohnungen usw. auf eine 
Verlegung der Industrie auf das Land hingewirkt 
werden. Die sittlichen Gefahren des Stadtlebens 
müssen durch intensivere Seelsorge (Vermeh- 
rung der Pfarreien und der Zahl der Seelsorge- 
kräfte, systematische Haus= und Vereinsseelsorge 
usw.), durch Gründung von guten religiösen und 
bildenden Vereinen, durch bessere sittliche Er- 
ziehung und Bildung usw. ihren Ausgleich finden. 
Die Konzentration der verschie- 
denen Lebensalter und Geschlechter in 
der Fabrik verpflichtet Arbeitgeber und Gesetz- 
gebung zu erhöhter sittlicher Aufsicht und Fürsorge 
(sittliche Bestimmungen in der Arbeitsordnung, 
Schutz der Sittlichkeit durch Gesetz: Tren- 
nung der Geschlechter usw.). Zugleich werden 
Seelsorge und Vereine für jugendliche und weib- 
liche Arbeiter, Haushaltungsschulen usw. erhöhte 
Wirksamkeit entfalten müssen. — Die „Lostren- 
nung vom häuslichen Herd“ während der Arbeit 
muß wieder ausgeglichen werden durch ein um so 
innigeres Familienleben für die arbeitsfreie Zeit: 
Kürzung der Arbeitszeit, Sicherung der Sonntags- 
ruhe, gute Wohnungen usw. 
4. Die Verdrängung der menschlichen 
Arbeitskraft durch die Maschine ist für 
die, welche zunächst „freigesetzt“" werden, verhäng- 
nisvoll. Auch dient die Maschine bei der ersten 
industriellen Entwicklung oftnurzur Herabdrückung 
und intensiveren Ausnutzung der mernschlichen 
Arbeitskraft. Bald aber sieht sich der Staat durch 
die Rücksicht auf sein eigenes Interesse gehalten, 
der Ausbeutung durch Beschränkung der Arbeits- 
zeit (Maximalarbeitstag). Verbot der 
Kinderarbeit, Reglung der Frauen- 
arbeit usw. Schranken zu setzen. Die Organi- 
Arbeiterfrage. 
  
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die Betätigung in der Verwaltung der gesetz- 
lichen Organisationen: Krankenkassen, Unfall= und 
Invaliditätsversicherung, in den Gewerbegerichten, 
Arbeiterausschüssen, Vereinen usw., in Gemeinde 
und Staat, die kürzere Arbeitszeit usw. bieten der 
Einseitigkeit und dem mechanischen Charakter 
der Arbeit ein starkes Gegengewicht, so daß die 
Arbeiter z. B. dem Handwerkerstand an geistiger 
Regsamkeit, an politischerund allgemeiner Bildung, 
an Standesbewußtsein und ernstem Streben durch- 
aus nicht nachstehen. Die frühe Selbständigkeit 
des Kindes kann durch Gesetz: Reglung der Lohn- 
zahlung (an die Eltern), obligatorische Fort- 
bildungsschule, durch Arbeitgeber (Arbeitsordnung) 
und Vereine für jugendliche Arbeiter usw. mit 
Erfolg bekämpft werden. 
5. Die Trennung von Produzent und 
Konsument gibt dem vermittelnden Handel 
eine stets steigende Bedeutung. Dieser sucht mit 
Erfolg durch das Barometer des „Preises“ Bedarf 
und Produktion in Harmonie zu erhalten. Börse 
und Presse orientieren tagtäglich den Produzenten 
über den Stand des Marktes. Auch durch regel- 
mäßige statistische Zusammenstellungen über Pro- 
duktion und Absatz, durch Konsularberichte (im 
Ausland), durch Beobachtungsstationen der Be- 
rufsorganisationen der Industrie und des Handels 
usw. können und sollten die Produzenten wirk- 
samer als bisher über die Marktlage orientiert 
werden. Die Anarchie der Produktion 
findet ihre Korrektur durch die Bildung von Kar- 
tellen, Syndikaten usw. Die (freilich schwie- 
rige) Aufgabe der Gesetzgebung ist, denselben im 
Rahmen ihrer berechtigten Bestrebungen einen 
öffentlich-rechtlichen Schutz zu geben, dabei aber 
den Mißbräuchen Schranken zu setzen. Die Fort- 
schritte der Technik — Vervollkommnung 
der Produktionsmittel — führen zwar 
entweder zu einer Steigerung der Produktion oder 
aber zu einer Verminderung der Zahl der be- 
schäftigten Arbeiter, aber tatsächlich tritt meistens 
die erste Folge ein, indem die verbilligte und 
verbesserte Produktion auch wieder einen er- 
weiterten Absatz, sei es im Inland, sei es im 
Ausland, ermöglicht. So weisen trotz zu- 
nehmender Verwendung von Arbeitskräfte er- 
setzenden Maschinen fast alle industriellen Berufs- 
genossenschaften eine stetig steigende Zahl von be- 
schäftigten Arbeitern (Versicherten) und sowohl 
absolut als auch pro Versicherten steigende Löhne 
auf. Dasselbe Resultat weist im Durchschnitt die 
Betriebsstatistik pro 1882 und 1895 nach. Durch 
die Steigerung des Exports ist es möglich 
geworden, trotz der Fortschritte der Technik und 
der Steigerung der individuellen Arbeitsleistung 
(mittels der Maschinen und Arbeitsteilung) eine 
stetig größere Zahl von Arbeitern in der Industrie 
zu beschäftigen und so die Bildung einer „in- 
dustriellen Reservearmee“ entweder ganz zu ver- 
hüten oder doch die baldige ÜUberführung der in 
sation der Arbeiter, die steigende Bildung, einer Branche etwa „dfreigesetzten“ Arbeiter in 
Staatslexikon. I. 3. Aufl. 
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