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Anspruch darauf hat, in seinen kranken und alten
Tagen von diesem versorgt zu werden. Die heu-
tige Zeit kennt solche dauernde Bindung für Lebens-
zeit nicht, Arbeitgeber und Arbeiter sollen frei sein,
sollen wechseln können. Was ist natürlicher, als
daß die Arbeitgeber, Dienstherrschaften usw. heute
entsprechend der Dienstzeit alljährlich, monatlich
oder wöchentlich die entsprechende Quote durch
Einzahlung in die Krankenkasse, durch Klebung
der Marken entrichten. Diese Form der Für-
sorge ist viel sicherer, viel gerechter und im
Interesse der Arbeitgeber wie der Arbeiter weit
zweckmäßiger als die frühere patriarchalische Weise.
Die verschiedene Abstufung des Beitrags des Ar-
beitgebers ist je nach dem Grad bemessen, in dem
der Versicherungsfall mit der besondern Berufs-
tätigkeit in Beziehung steht. So hat man bei der
Unfallversicherung (Betriebsunfällen) den Arbeit-
gebern fast die ganzen Kosten aufgelegt, während
ihnen bei der Krankenversicherung ein Drittel, bei
der Invalidenversicherung, die wieder mehr mit
den gesundheitlichen Gefährdungen der Berufs-
arbeit zusammenhängt, die Hälfte zugemessen ist.
2. Einwendungen; Widerlegungder-
selben. Die obligatorische Versicherung bedeutet
eine Entlastung der Armenpflege; sie
ist aber keine „andere Form“ der Armenpflege,
wie die Sozialdemokraten es darzustellen belieben.
Die Unterstützung aus der Kranken-, Unfallversiche-
rung usw. bezieht der Arbeiter auf Grund seiner
eigenen Beiträge bzw. der auf dem Arbeitsvertrag
beruhenden Beiträge des Arbeitgebers. Die Bei-
träge bilden eben einen Teil des „gerechten“ Arbeits-
lohns, und die Unterstützungen sind nicht ein Ge-
schenk, sondern ein wohlerworbenes Recht. — Wenn
man aus dem Umstand, daß die Versicherung eine
Entlastung der Armenpflege herbeiführt, eine Bei-
tragspflicht der Gemeinden, der Staaten oder des
Reichs für die Arbeiterversicherung herzuleiten und
damit auch den Reichsbeitrag bei der Invaliden-=
versicherung zu begründen versucht hat, so kann
diese Begründung nicht als stichhaltig anerkannt
werden. Die Versicherung bot eben ein will-
kommenes Hilfsmittel, den früher herrschenden
„Zwangskommunismus“ der Armenpflege ein-
zuschränken; sie durfte aber nicht dazu führen,
diesen Kommunismus durch einen gesetzlich sta-
tuierten Beitrag des Reichs erst recht anzuerkennen
und praktisch durchzuführen. Wenn anderseits
hie und da der Befürchtung Ausdruck gegeben
wurde, durch die Versicherung möchte das Feld
der freiwilligen Armenpflege zu sehr eingeengt
und der Betätigung der christlichen Liebe, ins-
besondere auch der Kinder gegen ihre Eltern,
Schranken gesetzt werden, so war das eine ebenso
prinzipiell falsche wie praktisch naive Anschauung.
Die Versicherung ist das einzig erfolgreiche Mittel,
dem Arbeiter seinen „gerechten“, die „Produktions-
kosten“, d. i. die Lebensbedürfnisse deckenden Lohn
zu sichern. Auf die Durchführung der Gerechtig-
keit zu verzichten, um der christlichen Charitas
Arbeiterversicherung.
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Spielraum zu geben, entspricht nicht der christlichen
Staatsauffassung. Ubrigens wird immer noch so
viel Elend, Schmerz und Not übrigbleiben, daß
der christlichen Charitas noch vollauf zu tun bleibt.
Tatsächlich sind trotz der umfassenden Leistungen
der Arbeiterversicherung sowohl die Unterstützungen
der gesetzlichen Armenpflege als insbesondere auch
die Maßnahmen privater Fürsorge stetig gestiegen.
Die Arbeiterversicherung hat der Menschenliebe
vielfach neue Wege der Betätigung gezeigt. Die
ganze Lebenshaltung unseres Arbeiterstands hat
sich gehoben, und so sind auch Maßstab und Ziele
der Armenpflege und Wohltätigkeit höher geführt.
Ebenso findet die Liebe der Kinder zu ihren be-
tagten Eltern noch reichliche Gelegenheit zur Be-
tätigung. Jedenfalls ziehen es aber die Eltern
vor, wenn sie ihr eigenes Brot auf Grund der
wohlerworbenen Alters= oder Invalidenrente essen
und ihren mit eigenen Familiensorgen überlasteten
Kindern noch eine sehr willkommene Beihilfe ge-
währen können, als wenn sie allein auf den guten
Willen ihrer Kinder oder Schwiegerkinder an-
gewiesen sind. — In gleicher Weise hat auch die
Befürchtung, der Arbeiter werde aller Sorge und
Vorsorge für die Zukunft vergessen, werde nicht
mehr sparen, sich nicht erfüllt. Umgekehrt: heute
ist der Arbeiter wenigstens sicher, daß ihm seine Er-
sparnisse später zugut kommen, während er früher,
mochte er auch noch so sehr gespart haben, durch
jeden Schicksalsschlag, Krankheit, Unfall, vor-
zeitiges Siechtum usw., doch wieder an den Bettel-
stab kam und oft genug nur für die Armenpflege
gespart hatte. So ist es psychologisch durchaus
begreiflich, daß mit den gewaltig angewachsenen
Kapitalien und Reservefonds in unsern Arbeiter-
versicherungen — heute mehr als eine Milliarde —
auch die Einlagen in öffentlichen und privaten
Sparkassen ganz außerordentlich angewachsen sind.
Und noch erfreulicher ist die Tatsache, daß die Ar-
beiter in immer steigendem Maß durch freiwillige
Höher= und Weiterversicherung, durch Eintritt in
eingeschriebene Hilfskassen (als Zuschußkassen),
durch Einkauf in Sterbekassen, in Lebensversiche-
rung und Volksversicherung sich die Wohltaten
der gesetzlichen Versicherung zu ergänzen streben.
. Vorzug der deutschen Arbeiter-
versicherung. Was die deutsche Arbeiterversiche-
rung vor der freien gewerkvereinlichen Arbeiterver=
sicherung in England, Nordamerika usw. vor allem
auszeichnet, ist neben der größeren Sicherheit und
der allgemeinen Durchführung namentlich der Um-
stand, daß in Deutschland die Solidarität
zwischen Arbeitgebern und Arbeitern sowohl in der
Aufbringung der Beiträge wie auch in der Organi-
sation und Verwaltung der Kassen gewahrt ist.
Die Gewerkvereine und ihre Kassen sind einseitige
Kampforganisationen, während die deutsche Ar-
beiterversicherung Arbeitgeber und Arbeiter wieder
zusammenführt und so dem sozialen Frieden dient.
In der Arbeiterversicherung ist der neutrale Boden
gegeben, wo Arbeitgeber und Arbeiter zusammen