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raten und taten, sich die Hand reichen in der Für-
sorge für die Opfer der Arbeit. In dieser prak-
tischen Fürsorge sollen sich Vorurteile und Miß-
verständnisse begleichen, sollen Arbeitgeber und
Arbeiter sich gegenseitig verständigen und achten
lernen. Die Arbeitgeber werden gezwungen, sich
mit den Lebensfragen und den Notständen der
Arbeiter und ihrer Familien zu beschäftigen —
der erste Schritt, mit Verständnis und Herz den
Problemen der Arbeiterfrage näherzutreten. Den
Arbeitgebern fällt nun einmal ein sehr wesent-
licher Teil der Aufgaben der Arbeiterfrage zu. Sie
können viel zur Erleichterung des Loses der Ar-
beiter, zur wirtschaftlichen und sittlichen Hebung
derselben beitragen, wie anderseits die Bemühungen
der Gesetzgebung und der Selbsthilfe verhältnis-
mäßig ohnmächtig und unfruchtbar bleiben müssen,
wenn die Arbeitgeber dieselben zu durchkreuzen
suchen. Die deutschen Arbeitgeber haben auch im
großen und ganzen noch ein Herz für ihre Ar-
beiter, und das kalte Manchestertum hat vielleicht
in der Theorie, aber nie in der Praxis allgemeine
Anerkennung gefunden. Wir in Deutschland haben
also gewiß keinen Grund, Arbeitgeber und Ar-
beiter, die doch nun einmal aufeinander angewiesen
sind, sich unnötig zu entfremden, vielmehr muß
uns die Gelegenheit willkommen sein, in der Für-
sorge für den kranken, invaliden Arbeiter und seine
Familie auch die Arbeitgeber zu engagieren.
Wenn man auch gewerkschaftliche Kampfesorgani-
sationen zum Zweck der Verteidigung der Inter-
essen der Arbeiter gegenüber den Arbeitgebern
für notwendig erachtet, so beschränke man jedenfalls
den Kampf auf die streitigen Gebiete (Löhne, Ar-
beitszeit usw.); die Arbeiter haben wahrlich am
wenigsten Grund, dieses Kampfesgebiet weiter
auszudehnen, als notwendig ist. Die Arbeiter-
versicherung ist ein segensreiches Gebiet gemein-
samer Arbeit.
4. Vorgeschichte der deutschen Arbeiter-
versicherung. Auf dem Gebiet der Arbeiterver-
sicherung ist Deutschland allen Kulturstaaten
vorausgeeilt; hier ist es zum Vorbild geworden,
dem diesenurlangsamundin weitem Abstand folgen.
Schon unter dem 6. und 7. April 1876 wurde ein
Gesetz über die „Eingeschriebenen Hilfskassen“ er-
lassen, welches die Versicherungspflicht durch Orts-
statut (mit Beitragspflicht der Arbeitgeber) vorsah.
Dann wurde 1878/79 eine Resolution (vom Ab-
geordneten v. Stumm gestellt, von Zentrum und
Konservativen unterstützt) in einer Kommission des
Reichstags beraten und festgesetzt, welche die Errich-
tung von Invaliden= und Altersversorgungskassen
für Fabrikarbeiter zugleich mit Witwen- und Wai-
senunterstützung nach Vorbild der Knappschafts-
kassen bezweckte. — Am 8. März 1881 wurde der
erste Gesetzentwurf betr. die Unfallversicherung
(Reichsversicherungsanstalt) eingebracht, der jedoch
in einer der Regierung nicht genehmen Form ange-
nommen wurde (Versicherungsanstalten der Einzel-
staaten). Am 17.Nov. 1881 erschien dann die Bot-
Staatslexikon. I. 3. Aufl.
Arbeiterversicherung.
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schaft Kaiser Wilhelmsl., in welcher, „um dem
Vaterland neue und dauernde Bürgschaften seines
inneren Friedens und den Hilfsbedürftigen größere
Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistands, auf den
sie Anspruch haben, zu hinterlassen“, ein neuer
Gesetzentwurf über die Versicherung der Arbeiter
gegen Betriebsunfälle und eine Vorlage zum Zweck
„gleichmäßiger Organisation des gewerblichen
Krankenkassenwesens“, endlich ein „höheres Maß
staatlicher Fürsorge“ für diejenigen, „welche durch
Alter und Invalidität erwerbsunfähig werden“,
in Aussicht gestellt wurde. Zugleich wurde als
Weg zu diesem Ziel „der engere Anschluß an die
realen Kräfte dieses (des christlichen) Volkslebens
und das Zusammenfassen der letzteren in der Form
korporativer Genossenschaften unter staatlichem
Schutz und staatlicher Fürsorge“ betont. — Am
8. Mai 1882 erschien ein neuer Gesetzentwurf
betr. die Unfallversicherung und ein solcher betr.
die Krankenversicherung. Letzterer Entwurf wurde
zuerst beraten und kam zur Verabschiedung (Gesetz
vom 15. Juni 1883). Ersterer Entwurf fand wenig
Beifall (wegen der „Betriebsgenossenschaften“ auf
Grund der gleichen Gefahrenklassen und des Reichs-
zuschusses). Am 14. April 1883 erschien die zweite
Kaiserliche Botschaft, welche die sofortige Beratung
des Reichshaushaltsetats für 1884/85 verlangte,
um den kommenden Winter für die Unfallversiche-
rung freizuhalten. Am 6. März 1884 wurde ein
dritter Entwurf (auf Grundlage der „Berufs“
Genossenschaften) eingebracht, der dann unter
maßgebender Mitwirkung des Zentrums (Frhr.
v. Franckenstein war Vorsitzender, v. Hertling Be-
richterstatter) zur Verabschiedung kam (Unfall-
versicherungsgesetz vom 6. Juli 1884). Zur Er-
weiterung der Unfallversicherung dienten das Gesetz
vom 28. Mai 1885 (Ausdehnung auf Post-,
Eisenbahn= und Telegraphenwesen, Fuhrwerks-,
Speditions= und Speichereibetrieb usw.), Gesetz
vom 15. März 1886 (für Beamte der Reichs-
zivilverwaltung, des Reichsheeres), Gesetz vom
5. Mai 1886 (für Land= und Forstwirtschaft),
Gesetz vom 11. Juli 1887 (für Bauarbeiter),
Gesetz vom 13. Juli 1887 (für Seeschiffahrt). —
Am 17. Nov. 1887 wurden die Grundzüge für
die Invaliditäts= und Altersversicherung (mit
Denkschrift) veröffentlicht. Im November 1888
wurde der Gesetzentwurf selbst eingebracht; am
24. Mai 1889 wurde das Gesetz im Reichstag
(mit 20 Stimmen Moajorität, davon 13 des
Zentrums) angenommen, am 22. Juni vollzogen.
Im großen und ganzen haben sich die Ver-
sicherungsgesetze bewährt. Es war ein kühner
Wurf, da alle Erfahrungen und zuverlässigen
statistischen Unterlagen mangelten. Alle Schwie-
rigkeiten sind glücklich überwunden; nicht bloß die
Arbeiter, sondern auch die Arbeitgeber haben sich
in steigendem Maß trotz der großen Opfer, welche
die Gesetze ihnen auflegten, mit denselben aus-
gesöhnt, und zwar um so mehr, je mehr die Wohl-
taten in weiteren Kreisen sich geltend machen. Die
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