Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Diese Grundzüge stellten den ersten Versuch 
dar, den allgemeinen Gedanken bestimmt und 
praktisch für eine gesetzgeberische Reglung aus- 
zugestalten. 
2. Anträge im Reichstag. Den ersten 
gesetzgeberischen Vorstoß zur Einführung von Ar- 
beitskammern haben die Sozialdemokraten in den 
umfassenden Arbeiterschutzanträgen von 1878 und 
1885 versucht; allein die dort vorgesehenen Ar- 
beitskammern konnten auch diejenigen nicht be- 
fürworten, welche mit dem Grundgedanken einer 
Arbeitervertretung durchaus einverstanden waren. 
Zunächst war es die Organisation, welche Be- 
denken erregen mußte, indem alle möglichen Be- 
rufe (Industrie, Handel und Verkehr, Handwerk 
und Landwirtschaft usw.) mechanisch zusammen- 
geführt waren, ohne auch nur den Versuch einer 
beruflichen Gliederung und eines Schutzes der 
Minorität (z. B. der Industrie gegenüber dem 
Handwerk oder umgekehrt, der Industrie wie des 
Handwerks gegenüber der in den meisten Arbeits- 
kammern, wie sie geplant waren, sicher überwiegen- 
den Landwirtschaft) zu machen. Dann aber konnten 
solche Befugnisse, wie sie der sozialdemokratische 
Antrag wollte, unmöglich gegeben werden, ohne den 
ganzen bestehenden Behördenorganismus zu durch- 
brechen, und war dazu um so weniger Anlaß, als 
die geplante Organisation so wenig Bürgschaften 
guter Verwaltung bieten konnte. Anstellung der 
Gewerbeaufsichtsbeamten, Bestimmung der Aus- 
nahmen bezüglich des Verbots der Nacht= und 
Sonntagsarbeit, Zulassung von Überstunden, Ge- 
nehmigung der Arbeitsordnung, Festsetzung von 
Minimallöhnen usw., alle diese Fragen sollten nach 
Anschauung und Laune der zufällig übenviegenden 
Interessengruppe geregelt werden. Die Vorschläge 
kamen 1886/87 zu eingehender Verhandlung in 
Kommission und Plenum des Reichstags und wur- 
den mit großer Majorität abgelehnt. Nur die An- 
tragsteller stimmten dafür. 
Unter dem 16. Nov. 1893 stellte die Zentrums- 
fraktion den Antrag, die verbündeten Regierungen 
zu ersuchen, tunlichst bald dem Reichstag einen Ge- 
setzentwurf vorzulegen, um den Arbeitern, entspre- 
chend den Kaiserlichen Erlassen vom 4. Febr. 1890, 
„eine geordnete Vertretung zum freien und fried- 
lichen Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden 
zu ermöglichen“ (Nr 39 der Drucksachen). Am 
5. Dez. 1894 wurde derselbe Antrag (Nr 21 der 
Drucksachen) wiederholt. Nachdem derselbe bei 
der Fülle der sozialpolitischen Anträge in beiden 
Jahren nicht zur Verhandlung kam, schlug am 
31. Jan. 1895 die Zentrumspartei den Weg der 
Interpellationen (vgl. Verhandlungen vom 6., 7. 
und 8. Febr.) ein: „Welche gesetzlichen Bestim- 
mungen sind — in Ausführung der Kaiserlichen 
Erlasse vom 4. Febr. 1890 — „über die For- 
men in Aussicht genommen, „ in denen die Arbeiter 
durch Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an 
der Reglung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt 
und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Ver- 
handlung mit den Arbeitgebern und mit den Or- 
ganen der Regierung befähigt werden"? Darf ins- 
besondere die Vorlage eines Gesetzentwurfs, betref- 
fend die gesetzliche Anerkennung der Berufsvereine 
und die Errichtung einer geordneten Vertretung der 
Arbeiter (Arbeiterkammern) zum freien und fried- 
lichen Ausdruck ihrer Wünsche und Beschwerden“ 
Arbeitskammern. 
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auch gegenüber den Staatsbehörden baldigst er- 
wartet werden?“ In einer Erklärung des Reichs- 
kanzlers Fürsten Hohenlohe und des preußischen 
Handelsministers Freiherrn v. Berlepsch wurde an- 
erkannt, daß die Kaiserlichen Erlasse in diesem Teil 
noch der Erfüllung harrten, daß aber wegen des 
Mißbrauchs der sozialen Organisationen seitens der 
Sozialdemokratie vorläufig von der Erfüllung ab- 
gesehen werden müsse. Am 4. Mai 1899 wurde 
ein neuer Antrag des Zentrums (ähnlich wie der 
von 1893) mit einem Zusatzantrag v. Heyl u. Ge- 
nossen nach dreitägiger gründlicher Debatte an eine 
Kommission verwiesen. Die Kommission einigte sich 
(März 1900) auf folgenden Kompromißantrag: 
„die verbündeten Regierungen zu ersuchen: a) für 
die Pflege des Friedens zwischen Arbeitgebern und 
Arbeitnehmern gesetzliche Bestimmungen über die 
Formen herbeizuführen, in denen die Arbeiter durch 
Vertreter, welche ihr Vertrauen besitzen, an der 
Reglung gemeinsamer Angelegenheiten beteiligt 
und zur Wahrnehmung ihrer Interessen bei Ver- 
handlung mit den Arbeitgebern und mit den Or- 
ganen der Regierung befähigt werden; b) insbeson- 
dere in Erwägung darüber einzutreten, in welcher 
Weise durch eine weitere gesetzliche Ausgestaltung 
der Gewerbegerichte unter besonderer Berücksichti- 
gung der §§ 9 (Bildung von Abteilungen: Fabrik, 
Handwerk, Hausindustrie), 61/69 (Einigungs- 
amt) und 70 (Gutachten und Anträge) des Gesetzes 
vom 29. Juli 1890, betreffend die Gewerbegerichte, 
ein Weg zu dem sub a bezeichneten Ziel sich 
bietet"“. 
Zu Beginn der Reichstagssession 1900/01 wurde 
diese Resolution sodann als Antrag von Mitglie- 
dern des Zentrums (Hitze, Trimborn, Wattendorf) 
und der nationalliberalen Partei (Frh. v. Heyl zu 
Herrnsheim, Bassermann und Münch-Ferber) ein- 
gebracht und in der Sitzung des Reichstags vom 
16. Jan. 1901 mit großer Mehrheit angenommen. 
Für den Antrag stimmten das Zentrum und die 
deutsch-freisinnige Partei und Vereinigung ge- 
schlossen, die Nationalliberalen und Deutschkonser- 
vativen in ihrer Mehrheit; dagegen stimmte nur 
) die Reichspartei. 
Am 4. Dez. 1903 drängte das Zentrum in Form 
einer Interpellation betr. Berufsvereine und 
[Arbeitskammern. Am 23. Jan. 1904 for- 
derte v. Heyl und Genossen von neuem eine Vor- 
lage im Sinn der Februarerlasse. In der Sitzung 
vom 30. Jan. erklärte der Staatssekretär Graf Po- 
sadowsky in Beantwortung der Interpellation, daß 
die verbündeten Regierungen „grundsätzlich nicht 
abgeneigt seien, die Rechtsfähigkeit der Berufsvereine 
der gewerblichen Arbeiter und Arbeiterinnen anzu- 
erkennen“ und sie als juristische Personen auszu- 
gestalten; daß sie ebenso bereit seien, die Gewerbe- 
gerichte als „Arbeitsvertretungen wei- 
ter auszubauen im Sinn der Kaiserlichen Botschaft. 
3. Gesetzentwurf vom 4. Febr. 1908. 
Am Jahrestag der Februarerlasse 1908 ist nun 
vom Bundesrat ein Gesetzentwurf über Arbeits- 
kammern der öffentlichen Kritik unterbreitet worden. 
Über Errichtung, Aufgaben und Zusammensetzung 
der Kammern bestimmt der Entwurf: · 
Für die Arbeitgeber und Arbeitnehmer eines 
oder mehrerer Gewerbezweige sind in Anlehnung 
an die Einteilung und die Bezirke der gewerblichen 
Berufsgenossenschaften Arbeitskammern zuerrichten. 
Die Arbeitskammern sind rechtsfähig. 
  
  
 
	        
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