361
ihren höheren Rang um so länger zu behaupten
wissen, je einfacher und gleichförmiger das Leben
des Volkes ist, dem sie angehören, je stetiger ins-
besondere die wirtschaftlichen Verhältnisse sind. —
Aber auch das Aufkommen eines bevorzugten
Standes läßt sich vorstellig machen, ohne daß
man dabei die sehr mannigfachen und zusammen-
gesetzten Faktoren im einzelnen heranziehen müßte,
welche den germanischen Adel auf den verschiedenen
Stufen seiner Entwicklung beeinflußt haben. Ein
solcher ist mit einem Schlag gegeben, wenn ein
erobernder Stamm einen andern unterwirft, der
nun seinen Grund und Boden mit den neuen
Herren teilen muß und ihnen in verschiedenartigen
Formen wirtschaftlicher und politischer Abhängig-
keit unterworfen bleibt. Die Geschichte Griechen-
lands gibt hierfür ebenso zahlreiche als allgemein
gekannte Belege. Aber der gleiche Gegensatz
zwischen den „Geschlechtern“ und dem Volke kann
sich auf friedlichem Weg bilden, wenn zu den
ersten Ansiedlern, in deren Händen Grund und
Boden sich befindet, besitzlose Elemente in großer
Zahl hinzuwandern, um Schutz und Erwerb zu
finden, wie es in den Städten des germanischen
Mittelalters der Fall war. — Mit dem Bestehen
einer derartigen sozialen Gliederung ist
nun freilich noch keineswegs auch schon die ari-
stokratische Staatsform gegeben. Vielmehr
wird jedesmal da, wo jene Gliederung auf dem
Weg der Eroberung entstanden ist, das Königtum
die frühere Form des staatlichen Gemeinwesens
sein. Gerade die griechische Geschichte aber zeigt,
daß überall, gleichsam nach einem bestimmten
Gesetz, das heroische Königtum, wie wir es aus
Homer kennen, verschwindet und ein Bund ein-
zelner Familien aus dem herrschenden Volke an
die Spitze des Staatswesens tritt. Nicht anders
in Rom, wo nach der Vertreibung der Könige
eine aristokratische Republik sich begründet und
festsetzt. Auch im Mittelalter müssen sich die auf-
blühenden Städte allmählich aus der Oberher=
schaft geistlicher und weltlicher Fürsten losmachen,
und gar manche, auch aus den größeren, ist zur
vollen Autonomie niemals gelangt. Überall aber
waren es die Patrizier, welche diesem Ziel zu-
strebten und denen zunächst die Früchte des glück-
lichen Erfolges zufielen. Die Bürger der ober-
italienischen Städte, welche unter den Stürmen
der Völkerwanderung und der langobardischen
Eroberung eine Zuflucht auf den venezianischen
Inseln fanden, überragten durch ihren Reichtum,
ihre Bildung und ihre gesamte Lebenshaltung
nicht nur die ansässige Bevölkerung, sondern auch
die ostgotischen und demnächst die byzantinischen
Magistrate. Zugleich verhinderte die Rivalität
der reichen und vornehmen Geschlechter unter-
einander, daß an die Stelle des aus ihrer Mitte
gewählten Dogen ein Herrscher mit erblichem
Recht trat. Seit dem Ende des 12. Jahrh. war
die Gewalt tatsächlich in den Händen des
Großen Rats, nur bei besondern Gelegenheiten
Aristokratie.
362
wurden noch Versammlungen des ganzen Volkes
einberufen; zu Anfang des 15. Jahrh. wur-
den sie völlig abgeschafft. — In historische Einzel-
heiten kann an dieser Stelle nicht eingegangen
werden. Eine Vergleichung des Entwicklungs-
prozesses, welchen Staaten mit aristokratischer
Verfassung durchlaufen haben, würde ohne Zwei-
sel große und durchgreifende Verschiedenheiten
aufweisen; niemals aber wird eine Minorität in
den Besitz der polilischen Gewalt gelangen, wenn
sie nicht schon vorher den sozial höherstehenden
Bestandteil der Bevölkerung bildete. Der Über-
gang der Herrschaft an diese Minorität wird
naturgemäß erscheinen und darum von den übrigen
widerspruchslos hingenommen werden, wenn der-
selbe soziale Vorrang, der sie über die Menge
erhebt, den Glanz des Königtums verdunkelt und
zu seiner völligen Beseitigung geführt hat; er
wird dagegen eine Kette von Ungerechtigkeiten und
Vergewaltigungen aufweisen, wo der Herrschaft
der wenigen ein Zustand politischer Gleichberech-
tigung der Gesamtheit vorangegangen ist. Hier
wie dort aber wird sich das Gewordene, Tat-
sächliche allmählich durch Gewöhnung in ein
Selbstverständliches und zu Recht Bestehendes
umsetzen.
Wenn die Neuzeit keine reinen Aristokratien
mehr kennt und wir nicht glauben, daß die Zu-
kunft ihrem Aufkommen günstig sein werde, so
wirken hierbei verschiedene Faktoren zusammen.
Unter ihnen kommt vielleicht demjenigen die ge-
ringste reale Bedeutung zu, den unserer ange-
wöhnten Denkweise gemäß jedermann zuerst an-
führen wird, dem Gefühl für staatsbürgerliche
Gleichheit und dem Haß gegen das politische
Vorrecht eines Standes, beides in seiner her-
gebrachten Formulierung ein Erbe der französischen
Revolution. Mehr ins Gewicht fällt die Tendenz
der modernen Welt zur Bildung großer zentrali-
sierter Staaten. Noch eher verträgt sich dieselbe
mit einer auf der Basis des allgemeinen Stimm-
rechts aufgebauten demokratischen Verfassung.
Denn hier sind die Bürger sämtlich gleiche Ein-
heiten, und die Entscheidung liegt bei der größeren
Zahl. Die Herrschaft einer privilegierten Minder-
heit aber setzt voraus, daß die Mitglieder derselben
für die Beherrschten mehr darstellen als eine bloße
Zahl, daß der Vorzug, auf dem ihre Herrschaft
beruht, ein bekannter und anerkannter ist und der
Glanz ihrer Namen das Gemeinwesen erhellt.
Hierdurch aber werden dem Umfang des Staats-
wesens von selbst enge Grenzen gesteckt, und die
Geschichte lehrt in der Tat, daß die Erweiterung
des Staatsgebiets für den Bestand der Aristokra-
tien verhängnisvoll wurde. Aber das eigentlich
Entscheidende ist, daß jene einfache, soziale Gliede-
rung, welche die Voraussetzung für das Aufkommen
und die Dauer der Aristokratien bildet, in der
Neuzeit nicht mehr besteht. Neben die großen
Grundbesitzer sind die Großindustriellen und die
Börsenmänner mit ihrem weit fruchtbareren mo-