Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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ihren höheren Rang um so länger zu behaupten 
wissen, je einfacher und gleichförmiger das Leben 
des Volkes ist, dem sie angehören, je stetiger ins- 
besondere die wirtschaftlichen Verhältnisse sind. — 
Aber auch das Aufkommen eines bevorzugten 
Standes läßt sich vorstellig machen, ohne daß 
man dabei die sehr mannigfachen und zusammen- 
gesetzten Faktoren im einzelnen heranziehen müßte, 
welche den germanischen Adel auf den verschiedenen 
Stufen seiner Entwicklung beeinflußt haben. Ein 
solcher ist mit einem Schlag gegeben, wenn ein 
erobernder Stamm einen andern unterwirft, der 
nun seinen Grund und Boden mit den neuen 
Herren teilen muß und ihnen in verschiedenartigen 
Formen wirtschaftlicher und politischer Abhängig- 
keit unterworfen bleibt. Die Geschichte Griechen- 
lands gibt hierfür ebenso zahlreiche als allgemein 
gekannte Belege. Aber der gleiche Gegensatz 
zwischen den „Geschlechtern“ und dem Volke kann 
sich auf friedlichem Weg bilden, wenn zu den 
ersten Ansiedlern, in deren Händen Grund und 
Boden sich befindet, besitzlose Elemente in großer 
Zahl hinzuwandern, um Schutz und Erwerb zu 
finden, wie es in den Städten des germanischen 
Mittelalters der Fall war. — Mit dem Bestehen 
einer derartigen sozialen Gliederung ist 
nun freilich noch keineswegs auch schon die ari- 
stokratische Staatsform gegeben. Vielmehr 
wird jedesmal da, wo jene Gliederung auf dem 
Weg der Eroberung entstanden ist, das Königtum 
die frühere Form des staatlichen Gemeinwesens 
sein. Gerade die griechische Geschichte aber zeigt, 
daß überall, gleichsam nach einem bestimmten 
Gesetz, das heroische Königtum, wie wir es aus 
Homer kennen, verschwindet und ein Bund ein- 
zelner Familien aus dem herrschenden Volke an 
die Spitze des Staatswesens tritt. Nicht anders 
in Rom, wo nach der Vertreibung der Könige 
eine aristokratische Republik sich begründet und 
festsetzt. Auch im Mittelalter müssen sich die auf- 
blühenden Städte allmählich aus der Oberher= 
schaft geistlicher und weltlicher Fürsten losmachen, 
und gar manche, auch aus den größeren, ist zur 
vollen Autonomie niemals gelangt. Überall aber 
waren es die Patrizier, welche diesem Ziel zu- 
strebten und denen zunächst die Früchte des glück- 
lichen Erfolges zufielen. Die Bürger der ober- 
italienischen Städte, welche unter den Stürmen 
der Völkerwanderung und der langobardischen 
Eroberung eine Zuflucht auf den venezianischen 
Inseln fanden, überragten durch ihren Reichtum, 
ihre Bildung und ihre gesamte Lebenshaltung 
nicht nur die ansässige Bevölkerung, sondern auch 
die ostgotischen und demnächst die byzantinischen 
Magistrate. Zugleich verhinderte die Rivalität 
der reichen und vornehmen Geschlechter unter- 
einander, daß an die Stelle des aus ihrer Mitte 
gewählten Dogen ein Herrscher mit erblichem 
Recht trat. Seit dem Ende des 12. Jahrh. war 
die Gewalt tatsächlich in den Händen des 
Großen Rats, nur bei besondern Gelegenheiten 
Aristokratie. 
  
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wurden noch Versammlungen des ganzen Volkes 
einberufen; zu Anfang des 15. Jahrh. wur- 
den sie völlig abgeschafft. — In historische Einzel- 
heiten kann an dieser Stelle nicht eingegangen 
werden. Eine Vergleichung des Entwicklungs- 
prozesses, welchen Staaten mit aristokratischer 
Verfassung durchlaufen haben, würde ohne Zwei- 
sel große und durchgreifende Verschiedenheiten 
aufweisen; niemals aber wird eine Minorität in 
den Besitz der polilischen Gewalt gelangen, wenn 
sie nicht schon vorher den sozial höherstehenden 
Bestandteil der Bevölkerung bildete. Der Über- 
gang der Herrschaft an diese Minorität wird 
naturgemäß erscheinen und darum von den übrigen 
widerspruchslos hingenommen werden, wenn der- 
selbe soziale Vorrang, der sie über die Menge 
erhebt, den Glanz des Königtums verdunkelt und 
zu seiner völligen Beseitigung geführt hat; er 
wird dagegen eine Kette von Ungerechtigkeiten und 
Vergewaltigungen aufweisen, wo der Herrschaft 
der wenigen ein Zustand politischer Gleichberech- 
tigung der Gesamtheit vorangegangen ist. Hier 
wie dort aber wird sich das Gewordene, Tat- 
sächliche allmählich durch Gewöhnung in ein 
Selbstverständliches und zu Recht Bestehendes 
umsetzen. 
Wenn die Neuzeit keine reinen Aristokratien 
mehr kennt und wir nicht glauben, daß die Zu- 
kunft ihrem Aufkommen günstig sein werde, so 
wirken hierbei verschiedene Faktoren zusammen. 
Unter ihnen kommt vielleicht demjenigen die ge- 
ringste reale Bedeutung zu, den unserer ange- 
wöhnten Denkweise gemäß jedermann zuerst an- 
führen wird, dem Gefühl für staatsbürgerliche 
Gleichheit und dem Haß gegen das politische 
Vorrecht eines Standes, beides in seiner her- 
gebrachten Formulierung ein Erbe der französischen 
Revolution. Mehr ins Gewicht fällt die Tendenz 
der modernen Welt zur Bildung großer zentrali- 
sierter Staaten. Noch eher verträgt sich dieselbe 
mit einer auf der Basis des allgemeinen Stimm- 
rechts aufgebauten demokratischen Verfassung. 
Denn hier sind die Bürger sämtlich gleiche Ein- 
heiten, und die Entscheidung liegt bei der größeren 
Zahl. Die Herrschaft einer privilegierten Minder- 
heit aber setzt voraus, daß die Mitglieder derselben 
für die Beherrschten mehr darstellen als eine bloße 
Zahl, daß der Vorzug, auf dem ihre Herrschaft 
beruht, ein bekannter und anerkannter ist und der 
Glanz ihrer Namen das Gemeinwesen erhellt. 
Hierdurch aber werden dem Umfang des Staats- 
wesens von selbst enge Grenzen gesteckt, und die 
Geschichte lehrt in der Tat, daß die Erweiterung 
des Staatsgebiets für den Bestand der Aristokra- 
tien verhängnisvoll wurde. Aber das eigentlich 
Entscheidende ist, daß jene einfache, soziale Gliede- 
rung, welche die Voraussetzung für das Aufkommen 
und die Dauer der Aristokratien bildet, in der 
Neuzeit nicht mehr besteht. Neben die großen 
Grundbesitzer sind die Großindustriellen und die 
Börsenmänner mit ihrem weit fruchtbareren mo-
	        
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