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bilen Kapital getreten, zwischen diesen Gruppen
sozialer Koryphäen besteht keine Solidarität der
Interessen, sondern ein still oder laut geführter
Krieg. Und zu der größeren Kompliziertheit des
sozialen Körpers tritt die ungeheuere Unruhe des
modernen Wirtschaftslebens mit seinen Produk-
tionsschwankungen, Handelskrisen und Börsen-
katastrophen. Wohersollten die Patriziergeschlechter
kommen, in denen Besitz und staatsmännische Bil-
Aristokratie.
dung und edler Gemeinsinn durch lange Gene-
rationsreihen vom Vater auf den Sohn über-
gehen? Nicht innerhalb eines einzelnen unter den
Gesellschaftskreisen, welche das moderne Staats-
wesen umfaßt, darf heutzutage der Träger der
Staatsgewalt sich finden, sondern an einer höheren
Stelle, welche die sämtlichen überragt und darum
die Interessen derselben gegeneinander auszu-
gleichen imstande ist.
3. Zur Würdigung der aristokrati-
schen Staatsform. Nach Montesquien wäre
das Prinzip der Aristokratie die Mäßigung, wie
das der Monarchie die Ehre, das der Demokratie
die bürgerliche Tugend. Aber die Einteilung ist
wenig glücklich und läßt das Charakteristische der
einzelnen Formen nirgends heraustreten. Mit
einem größeren Schein von Richtigkeit könnte
man vielleicht sagen, das Prinzip der Aristokratie
sei die Gewohnheit. Aufrechterhaltung des Alther-
gebrachten, Vermeidung jeder unruhigen Neuerung
liegen daher in der Natur einer aristokratischen
Regierung, ihre Politik wird eine konsequente,
stetige sein, die Uberlieferung der Bäter als eine
gewissenhaft festzuhaltende Norm gelten. Es ist
einleuchtend, wie sehr diese Tendenz dem ruhigen
Gang und der Sicherheit des Staatslebens zum
Vorteil gereichen muß, wie sie aber zugleich auch
die Gefahr eines verknöcherten Konservativismus
in sich birgt, welcher, zähe am Alten festhaltend,
jedem, auch dem berechtigtsten Fortschritt ent-
gegentritt. Ein Ausfluß dieser auf die Erhaltung
gerichteten Tendenz war die für das Mittelalter
charakteristische Erblichkeit der Amter. Man
braucht nicht so weit zu gehen, das deutsche Reich
selbst seit dem Untergang der Hohenstaufen als
eine Aristokratie zu bezeichnen, aristokratische Ideen
aber beherrschen jene ganze Periode und treten
in den Verfassungen der untergeordneten Gemein-
wesen deutlich hervor, nicht zum wenigsten in der
erblichen Befestigung aller politischen und recht-
lichen Verhältnisse. „Die Lehen, die Reichswürden
und Amter, die Gerichtsbarkeit in allen Stufen,
Grasschaften, Vogteien, Grundherrschaften, selbst
die Stühle der urteilenden Schöffen, die Ritter-
schaft, der Hofdienst der Ministerialen, die Patri-
ziate in den Städten, die Meier= und Kellerämter
in den Dörfern, der hofrechtliche Besitz der hörigen
Bauern, alles wurde während des Mittelalters
erblich" (Bluntschli). Montesquien meint ganz
allgemein, es bezeichne die äußerste Verderbnis,
wenn eine Aristokratie sich erblich festsetze. Dies
ist ohne Frage eine Übertreibung, bei welcher die
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Erinnerungen an die antike Staatsphilosophie
nachwirken. Vielmehr wurde oben als das wesent-
liche Merkmal der historischen Aristokratie be-
zeichnet, daß in ihr die herrschende Minorität aus
eigenem Recht die Regierung führt, womit das
andere von selbst gegeben ist, daß die Zugehörig-
keit zu einem sozial hervorragenden Stand auf
Grund des Erbrechts zur Herrschaft beruft. Richtig
aber ist, daß Erblichkeit der öffentlichen Amter der
Aristokratie leicht ein gehässiges Gepräge auf-
drücken wird. Ausbeutung der Staatsgewalt in
privatem Interesse ist nach Aristoteles das eigent-
liche Kennzeichen einer schlechten Verfassung, eine
derartige privatrechtliche Ausnutzung der Funk-
tionen des staatlichen Lebens ist aber nicht allzu-
weit hiervon entfernt. Dem idealen Moment, auf
welches die Aristokratie ihrem Namen nach An-
spruch macht, ist es sicherlich angemessener, wenn
der Führung öffentlicher Geschäfte ein Privat-
vorteil nicht anhaftet, sondern umgekehrt, wenn
die Großen durch Opfer, die sie für das Gemein-
wesen bringen, das Volk mit ihrem politischen
Vorrang versöhnen. Mit dem Ruhm des Staates
werden alsdann die Namen seiner hochherzigen
Patrizier untrennbar verbunden. Auch das ent-
spricht der Natur der Aristokratie, daß sie die Or-
gane und die Lebensäußerungen des Staates mit
Würde und Glanz umgibt, um durch das Impo-
nierende der Erscheinung das Gewicht der Autori-
tät zu verstärken. Beides aber setzt freilich voraus,
daß die wirtschaftliche Grundlage des politischen
Vorrangs keine Minderung erfährt und Maß-
regeln bestehen, welche den Besitz der herrschenden
Geschlechter zu befestigen geeignet sind. Auch hier
verkennt Montesquien völlig die Verhältnisse des
realen Lebens, wenn er Majorate und ähnliche
Einrichtungen im aristokratischen Staatswesen als
fehlerhaft bezeichnet. — Der erbliche Anspruch
auf die Regierungsgewalt wirkt sodann in den
herrschenden Geschlechtern für sorgfältige Erzie-
hung und staatsmännische Schulung der Jugend.
In politischer Atmosphäre aufgewachsen, mit dem
Gang der Staatsgeschäfte frühzeitig vertraut,
wird sie, wenn der Augenblick kommt, der sie an
die Stelle der abtretenden Alten ruft, das Steuer
mit Zuversicht ergreisen und mit Festigkeit führen.
„Vortreffliche Einrichtungen zur staatsmännischen
Erziehung der jüngeren Mitglieder der Aristokratie
bestanden in Rom durch den regelmäßigen Stufen-
gang in der Bekleidung öffentlicher Amter; so-
dann in Bern teils durch dieselbe Einrichtung,
teils aber durch die frühzeitige Bildung der ganzen
Jugend in Staatsgeschäften mittels eines Schein-
bildes der Regierung, in welchem alle wirklichen
Amter ebenfalls verliehen und die im Leben vor-
kommenden Geschäfte zur Ubung betrieben wur-
den“ (Mohl). — Derselbe konservative Geist, der
in dem ängstlichen Festhalten an dem Herge-
brachten das Mittel zur Wahrung der äußeren
Ordnung erblickt, wird nicht minder zu gewissen-
hafter Pflege des Rechts antreiben. Gerade