Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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in der Ethik überhaupt einnimmt. — Wie ihn 
in der Betrachtung und Erforschung der Natur 
überall der Zweckgedanke leitet, so daß er es nicht 
nur als seine allgemeine Überzeugung ausspricht, 
die Natur tue nichts auf geradehin und ohne 
Ziel, sondern auch im einzelnen überall bestrebt 
ist, jede Einrichtung und jede Beschaffenheit der 
Dinge aus der ihnen zukommenden Wirksamkeit, 
diese letztere aber aus dem Ziel zu erklären, auf 
welches sie gerichtet ist und welches durch sie er- 
reicht werden soll, so ist die gleiche Denkweise für 
ihn auch in der praktischen Philosophie maßgebend. 
Was ist der Zweck des Menschen, das letzte Ziel, 
worauf die spezifisch menschliche Tätigkeit ab- 
zweckt? Und was ist der Zweck der geordneten 
menschlichen Gemeinschaft des Staates? Das, 
wonach als dem obersten Ziel alle streben, wenn 
sie es auch auf verschiedenen Wegen zu erreichen 
suchen, ist die Glückseligkeit. Die Philosophie 
aber stellt fest, daß die Glückseligkeit nur in der 
Betätigung der Vernunft als des auszeichnenden 
Bestandteils der Menschennatur bestehen kann, 
sei dies unmittelbar denkende Betrachtung, sei es 
Unterordnung des gesamten Menschen unter das 
von der Vernunft ausgehende Gebot. 
Aber wie Aristoteles es versäumt hat, wenigstens 
in seinen wissenschaftlichen Lehrschriften, seiner 
teleologischen Naturbetrachtung bestimmt und aus- 
drücklich die Richtung auf eine zwecksetzende (gött- 
liche) Vernunft zu geben, so bleibt eine ähnliche 
Lücke in der Ethik. Daß der Unterschied von gut 
und böse nicht auf bloßer Menschensatzung beruhe, 
sondern in der Natur selbst begründet sei, ist die 
gelegentlich zum Ausdruck gelangende Uberzeugung, 
aber nirgends wird das die sittliche Ordnung be- 
stimmende Gesetz mit voller Deutlichkeit als oberstes 
Prinzip herausgestellt. So kommt der tiefgreifende 
Unterschied zwischen dem Zweck des Menschen als 
dem Ziel seines ethischen Sollens und den Zwecken, 
die die übrigen Naturdinge in blinder Betätigung 
ihrer Kräfte und Triebe realisieren, nicht hinreichend 
zur Würdigung, und es bleibt der aristotelischen 
Lehre jener ästhetische Charakter, welcher der anti- 
ken Ethik überhaupt eigen ist: das Gute ist das 
Schöne, das den Vernünftigen und Weisen Wohl- 
gefällige, mit ihm allein ist eine dauernde Lust 
verbunden; das Böse umgekehrt ist widrig und 
häßlich. Edel angelegte Naturen wenden sich von 
selbst dem Guten zu, die Menge muß durch Ge- 
wöhnung, durch die strenge Zucht des Gesetzes 
dazu erzogen werden. 
Auf einem solchen Standpunkt ist eine prin- 
zipielle Scheidung zwischen dem Gebiet des Rechts 
und dem des Sittlichen im engeren Sinn nicht 
möglich. Wie dem Griechen überhaupt, ist auch 
für Aristoteles der Staat die vollste Realisierung 
des Schönen, Guten, Sittlichen. Sein Zweck 
als der höhere umfaßt den des einzelnen und 
schließt ihn ein, oder wie Aristoteles es ausdrückt: 
der Staat ist früher als der einzelne. Er ist zu- 
gleich so völlig von dem Geist seines Lehrers 
Aristoteles. 
  
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Plato erfüllt, daß ihm das nationale Staatsleben 
in seiner konkreten Erscheinung nicht das letzte und 
höchste sein kann, daß er den Staat vielmehr 
ausdrücklich in den Dienst sittlicher Ideen stellt. 
Aber er kennt nun auch keine Seite sittlicher Be- 
tätigung, welche um ihrer besondern Natur und 
Beschaffenheit willen dem Einfluß staatlicher Maß- 
nahmen entrückt werden müßte; er zweifelt nicht 
daran, daß staatliche Gesetzgebung jedwede Tu- 
gendübung vorschreiben solle; er zweifelt auch nicht 
daran, daß ihr, wo sie es unternimmt, der Erfolg 
gewiß sein werde. So wird ihm der Unterschied 
zwischen den beiden Disziplinen der Ethik und 
Politik ein bloß äußerlicher. Politik im weiteren 
Sinn ist der Name für die ethische Hauptwissen- 
schaft. Dieselbe zerfällt sodann in einen Teil, der 
von der sittlichen Tätigkeit des einzelnen handelt, 
die Ethik, und einen zweiten, der vom Staat 
handelt, die Politik im engeren Sinn. 
Aus der ethischen Betrachtung interessiert hier 
die Untersuchung über die Gerechtigkeit. Sie 
bildet den Inhalt jenes fünften Buchs der Niko- 
machischen Ethik, welches noch späteren Jahr- 
hunderten, noch über die Zeit der Scholastik hin- 
aus, als Quelle für die Begriffe des Naturrechts 
gedient hat. Daß trotzdem Aristoteles nicht als 
Begründer des Naturrechts gelten kann, folgt 
bereits aus dem zuvor Gesagten. Er hat so wenig 
einen Begriff von Recht in unserem Sinn, wie 
die griechische Sprache einen Namen dafür hat. 
Seine Untersuchung gilt der Gerechtigkeit als 
einer Tugend, einer moralischen Beschaffenheit. 
Indem er sodann eine zweifache Bedeutung dieses 
Namens unterscheidet, fixiert er den Sprachge- 
brauch, der sich lange vor ihm und nicht in Grie- 
chenland allein ausgebildet hatte, für die ganze 
Folgezeit. Unter Gerechtigkeit können wir hier- 
nach einmal den Inbegriff sittlicher Vollendung 
verstehen, sofern damit nicht nur die harmonische, 
von der Vernunft beherrschte Ausgestaltung aller 
Kräfte und Neigungen des Individuums an sich, 
sondern auch die richtige Beschaffenheit den andern 
gegenüber gesetzt ist. Sie schließt in diesem Sinn 
die sämtlichen Tugenden ein, indem sie zugleich 
jeder einzelnen die Richtung auf den Nebenmenschen 
gibt. In engerer Bedeutung dagegen bezeichnet 
Gerechtigkeit das richtige Verhalten in der Ver- 
teilung und dem Austausch von Gütern. Das 
richtige Verhalten soll aber hier wie bei jeder 
Tugend in der Wahrung der richtigen Mitte und 
dementsprechend die Ungerechtigkeit in dem fehler- 
haften Abweichen ins Extrem bestehen. Wird 
dann weiter das Gerechte in diesem Sinn als 
das Gleichmäßige bezeichnet, so denken wir an 
ein solches Verhältnis im Güterverkehr, bei dem 
keiner zu viel und keiner zu wenig erhält, also 
jeder, was ihm gebührt. Nur daß die Gerechtig- 
keit keineswegs immer dann gewahrt ist, wenn 
alle das Gleiche erhalten! Aristoteles setzt daher 
auch alsbald an Stelle des Gleichmäßigen das 
Verhältnismäßige; aber er unterläßt es, den Maß-
	        
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