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in der Ethik überhaupt einnimmt. — Wie ihn
in der Betrachtung und Erforschung der Natur
überall der Zweckgedanke leitet, so daß er es nicht
nur als seine allgemeine Überzeugung ausspricht,
die Natur tue nichts auf geradehin und ohne
Ziel, sondern auch im einzelnen überall bestrebt
ist, jede Einrichtung und jede Beschaffenheit der
Dinge aus der ihnen zukommenden Wirksamkeit,
diese letztere aber aus dem Ziel zu erklären, auf
welches sie gerichtet ist und welches durch sie er-
reicht werden soll, so ist die gleiche Denkweise für
ihn auch in der praktischen Philosophie maßgebend.
Was ist der Zweck des Menschen, das letzte Ziel,
worauf die spezifisch menschliche Tätigkeit ab-
zweckt? Und was ist der Zweck der geordneten
menschlichen Gemeinschaft des Staates? Das,
wonach als dem obersten Ziel alle streben, wenn
sie es auch auf verschiedenen Wegen zu erreichen
suchen, ist die Glückseligkeit. Die Philosophie
aber stellt fest, daß die Glückseligkeit nur in der
Betätigung der Vernunft als des auszeichnenden
Bestandteils der Menschennatur bestehen kann,
sei dies unmittelbar denkende Betrachtung, sei es
Unterordnung des gesamten Menschen unter das
von der Vernunft ausgehende Gebot.
Aber wie Aristoteles es versäumt hat, wenigstens
in seinen wissenschaftlichen Lehrschriften, seiner
teleologischen Naturbetrachtung bestimmt und aus-
drücklich die Richtung auf eine zwecksetzende (gött-
liche) Vernunft zu geben, so bleibt eine ähnliche
Lücke in der Ethik. Daß der Unterschied von gut
und böse nicht auf bloßer Menschensatzung beruhe,
sondern in der Natur selbst begründet sei, ist die
gelegentlich zum Ausdruck gelangende Uberzeugung,
aber nirgends wird das die sittliche Ordnung be-
stimmende Gesetz mit voller Deutlichkeit als oberstes
Prinzip herausgestellt. So kommt der tiefgreifende
Unterschied zwischen dem Zweck des Menschen als
dem Ziel seines ethischen Sollens und den Zwecken,
die die übrigen Naturdinge in blinder Betätigung
ihrer Kräfte und Triebe realisieren, nicht hinreichend
zur Würdigung, und es bleibt der aristotelischen
Lehre jener ästhetische Charakter, welcher der anti-
ken Ethik überhaupt eigen ist: das Gute ist das
Schöne, das den Vernünftigen und Weisen Wohl-
gefällige, mit ihm allein ist eine dauernde Lust
verbunden; das Böse umgekehrt ist widrig und
häßlich. Edel angelegte Naturen wenden sich von
selbst dem Guten zu, die Menge muß durch Ge-
wöhnung, durch die strenge Zucht des Gesetzes
dazu erzogen werden.
Auf einem solchen Standpunkt ist eine prin-
zipielle Scheidung zwischen dem Gebiet des Rechts
und dem des Sittlichen im engeren Sinn nicht
möglich. Wie dem Griechen überhaupt, ist auch
für Aristoteles der Staat die vollste Realisierung
des Schönen, Guten, Sittlichen. Sein Zweck
als der höhere umfaßt den des einzelnen und
schließt ihn ein, oder wie Aristoteles es ausdrückt:
der Staat ist früher als der einzelne. Er ist zu-
gleich so völlig von dem Geist seines Lehrers
Aristoteles.
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Plato erfüllt, daß ihm das nationale Staatsleben
in seiner konkreten Erscheinung nicht das letzte und
höchste sein kann, daß er den Staat vielmehr
ausdrücklich in den Dienst sittlicher Ideen stellt.
Aber er kennt nun auch keine Seite sittlicher Be-
tätigung, welche um ihrer besondern Natur und
Beschaffenheit willen dem Einfluß staatlicher Maß-
nahmen entrückt werden müßte; er zweifelt nicht
daran, daß staatliche Gesetzgebung jedwede Tu-
gendübung vorschreiben solle; er zweifelt auch nicht
daran, daß ihr, wo sie es unternimmt, der Erfolg
gewiß sein werde. So wird ihm der Unterschied
zwischen den beiden Disziplinen der Ethik und
Politik ein bloß äußerlicher. Politik im weiteren
Sinn ist der Name für die ethische Hauptwissen-
schaft. Dieselbe zerfällt sodann in einen Teil, der
von der sittlichen Tätigkeit des einzelnen handelt,
die Ethik, und einen zweiten, der vom Staat
handelt, die Politik im engeren Sinn.
Aus der ethischen Betrachtung interessiert hier
die Untersuchung über die Gerechtigkeit. Sie
bildet den Inhalt jenes fünften Buchs der Niko-
machischen Ethik, welches noch späteren Jahr-
hunderten, noch über die Zeit der Scholastik hin-
aus, als Quelle für die Begriffe des Naturrechts
gedient hat. Daß trotzdem Aristoteles nicht als
Begründer des Naturrechts gelten kann, folgt
bereits aus dem zuvor Gesagten. Er hat so wenig
einen Begriff von Recht in unserem Sinn, wie
die griechische Sprache einen Namen dafür hat.
Seine Untersuchung gilt der Gerechtigkeit als
einer Tugend, einer moralischen Beschaffenheit.
Indem er sodann eine zweifache Bedeutung dieses
Namens unterscheidet, fixiert er den Sprachge-
brauch, der sich lange vor ihm und nicht in Grie-
chenland allein ausgebildet hatte, für die ganze
Folgezeit. Unter Gerechtigkeit können wir hier-
nach einmal den Inbegriff sittlicher Vollendung
verstehen, sofern damit nicht nur die harmonische,
von der Vernunft beherrschte Ausgestaltung aller
Kräfte und Neigungen des Individuums an sich,
sondern auch die richtige Beschaffenheit den andern
gegenüber gesetzt ist. Sie schließt in diesem Sinn
die sämtlichen Tugenden ein, indem sie zugleich
jeder einzelnen die Richtung auf den Nebenmenschen
gibt. In engerer Bedeutung dagegen bezeichnet
Gerechtigkeit das richtige Verhalten in der Ver-
teilung und dem Austausch von Gütern. Das
richtige Verhalten soll aber hier wie bei jeder
Tugend in der Wahrung der richtigen Mitte und
dementsprechend die Ungerechtigkeit in dem fehler-
haften Abweichen ins Extrem bestehen. Wird
dann weiter das Gerechte in diesem Sinn als
das Gleichmäßige bezeichnet, so denken wir an
ein solches Verhältnis im Güterverkehr, bei dem
keiner zu viel und keiner zu wenig erhält, also
jeder, was ihm gebührt. Nur daß die Gerechtig-
keit keineswegs immer dann gewahrt ist, wenn
alle das Gleiche erhalten! Aristoteles setzt daher
auch alsbald an Stelle des Gleichmäßigen das
Verhältnismäßige; aber er unterläßt es, den Maß-