Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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stab anzugeben, an dem sich das richtige Verhält- 
nis herausstellt und nach einer allgemeinen Regel 
bestimmt wird, was jedesmal einem jeden gebührt. 
Und doch ist seine Absicht keineswegs, den Kreis, 
in dem das Gerechte sich findet, ausschließlich auf 
die Beziehungen des Mein und Dein einzuschränken; 
nicht nur die Übervorteilung des andern, sondern 
jedweder Einbruch in die fremde Rechtssphäre, 
Mord, Gewalttat, Ehebruch, werden unter den 
Begriff der Ungerechtigkeit subsumiert. Aber wir 
vermissen eine Definition, welche die sämtlichen 
Fälle prinzipiell zusammenfaßte und so durch 
den Gegensatz den eigenartigen Inhalt der Ge- 
rechtigkeit im Unterschied von den übrigen Tugen- 
den heraustreten ließe. Es ist dies nur die andere 
Seite des schon oben gerügten Mangels. So nahe 
der Philosoph gelegentlich daran rührt, so fehlt 
doch die volle Anerkennung der dem Menschen als 
solchem eignenden, ursprünglichen, rechtlichen Be- 
sugnisse, die aus dem Zweck und der auszeich- 
nenden Beschaffenheit der Menschennatur stammen 
und in denen das innere Maß des Gerechten und 
Ungerechten liegt. Der Mangel wird nicht dadurch 
aufgewogen, daß Aristoteles bestimmt und un- 
zweideutig ein natürliches Gerechtes anerkennt und 
dasselbe in seiner Unveränderlichkeit dem bloß 
politisch Gerechten gegenüberstellt, d. h. demjenigen, 
was in einem bestimmten Staat auf Grund seiner 
besondern Einrichtung Rechtens ist. Denn es wird 
nirgends der Versuch gemacht, jenes von Natur 
Gerechte nun auch aus der Natur abzuleiten. Es 
erscheint wohl als dasjenige, worauf als auf das 
Beste die Natur hinzielt und zu welchem sie an- 
treibt, nicht aber als die unzweideutige Norm, mit 
welcher die positiven Satzungenin Ubereinstimmung 
zu bringen sind. 
Statt dessen wird der ersten Einteilung alsbald 
eine zweite an die Seite gestellt und die Gerech- 
tigkeit in der engeren Bedeutung nochmals in 
eine Zweiheit gespalten. Aristoteles wird hier der 
Urheber der bekannten, unzähligemal nachgesproche- 
nen Unterscheidung zwischen austeilender und 
ausgleichender Gerechtigkeit, iustitia distri- 
butiva und justitia commutativa. Bei der 
ersteren handelt es sich um die Verteilung staats- 
bürgerlicher Vorzüge und gemeinsamen Besitzes 
an die einzelnen, bei der andern um die Auf- 
hebung und Verhinderung von Rechtsverletzungen. 
Jenes Merkmal des Gleichmäßigen soll bei der 
ersten in Gestalt einer geometrischen Proportion 
zutage treten. Die austeilende Gerechtigkeit ist 
gewahrt, wenn das, was der eine an Ehren und 
Vorteilen bekommt, zu dem dem andern Zuge- 
wiesenen sich ganz ebenso verhält wie das Verdienst 
oder die Würdigkeit des ersten zu dem Verdienst 
oder der Würdigkeit des zweiten. Bei der aus- 
gleichenden Gerechtigkeit soll es dagegen nicht auf 
die Würdigkeit der Person, sondern lediglich auf 
den Wert der Sachen ankommen. Sie verlangt 
in Verträgen, daß jeder gleichviel erhalte, und 
verlangt, daß, wer Unrecht getan hat, so viel 
Aristoteles. 
  
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Nachteil zu erleiden habe, als er sich unrecht- 
mäßigen Vorteil angeeignet hat. Hier soll dem- 
gemäß die arithmetische Proportion gelten, in 
welcher die Gliederpaare einander gleich sind. Die 
Gerechtigkeit ist gewahrt, wenn das, was der eine 
erhalten hat, abzüglich des unrechtmäßigerweise 
angemaßten Überschusses, ebensoviel beträgt als 
das dem andern ursprünglich Zugefallene samt 
dem jenem ersten Entzonenen und diesem zweiten 
nachträglich Beigelegten. Und Aristoteles will 
hierunter nicht nur die Verträge der verschiedenen 
Art zusammengefaßt wissen, nicht nur Kauf und 
Verkauf, Anlehen, Vermietung usw. sollen danach 
bemessen werden, sondern auch diejenigen For- 
derungen, welche ihren Ursprung in erlittenem 
Unrecht haben, sei dies heimlich oder in offener 
Gewalttat zugefügt. Als Verhältnisse solcher Art 
werden aufgezählt einerseits Diebstahl, Ehebruch, 
Vergiftung, Verführung, Betrug, Meuchelmord, 
falsches Zeugnis, anderseits Mißhandlung, Frei- 
heitsentziehung, Totschlag, Raub, Verstümme- 
lung, Beschimpfung, Verhöhnung. Aber Aristo- 
teles kommt sofort mit seiner Auffassung ins 
Gedränge, ganz abgesehen davon, daß es ein 
Mangel ist, wenn zwischen Schadenersatz und 
Strafe nicht geschieden wird. Schon beim Tausch 
herrscht nicht arithmetische Gleichheit, er geschieht 
nicht zwischen denselben, sondern zwischen ver- 
schiedenen, aber an Wert gleichen Gegenständen. 
Aristoteles kann nicht in Abrede stellen, daß auch 
hier vielmehr das Verhältnis der geometrischen 
Proportion gilt; wie sich die Ware des einen zu 
der des andern verhält, so hat sich das, was jener 
bekommt, zu dem, was dieser bekommt, zu ver- 
halten. Aber auch in der Strafrechtspflege ist es 
nicht anders, und daß hier allerdings, der früheren 
Aussage zuwider, die Person des Verletzenden wie 
die des Verletzten mit in Frage kommt, wird ge- 
legentlich ausdrücklich anerkannt. 
So genügt die Erörterung gerade da nicht, wo 
es sich um Hauptpunkte handelt. Weder wird die 
Norm, an welcher sich herauszustellen hat, was 
rechtmäßig oder gerecht ist, mit zweifelloser Klar- 
heit bestimmt, noch auch wird der Versuch gemacht, 
dasselbe aus einem höheren Prinzip abzuleiten. 
Ob eine bessere Überlieferung des vielfach zer- 
rütteten Textes diese Mängel beseitigen würde, ist 
zweifelhaft. Im Besitz der bereicherten und be- 
richtigten Vorstellungen, welche die dazwischen 
liegende römische Rechtswissenschaft zutage geför- 
dert hatte, haben die Erklärer die schwankenden 
Begriffe festgestellt und die Lücken ausgefüllt, ohne 
sich bewußt zu werden, daß sie damit fremde Be- 
standteile in den ursprünglichen Gedankengang 
hineintrugen. Ubrigens mag nochmals hervor- 
gehoben werden, daß für den letzteren nicht der 
juridische, sondern der ethische Gesichtspunkt der 
maßgebende ist. Nicht in der äußerlichen Über- 
einstimmung der Handlung mit dem Gesetz wird 
darum das entscheidende Kriterium der Gerechtig- 
keit erblickt, sondern in der innern Gesinnung, 
 
	        
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