369
stab anzugeben, an dem sich das richtige Verhält-
nis herausstellt und nach einer allgemeinen Regel
bestimmt wird, was jedesmal einem jeden gebührt.
Und doch ist seine Absicht keineswegs, den Kreis,
in dem das Gerechte sich findet, ausschließlich auf
die Beziehungen des Mein und Dein einzuschränken;
nicht nur die Übervorteilung des andern, sondern
jedweder Einbruch in die fremde Rechtssphäre,
Mord, Gewalttat, Ehebruch, werden unter den
Begriff der Ungerechtigkeit subsumiert. Aber wir
vermissen eine Definition, welche die sämtlichen
Fälle prinzipiell zusammenfaßte und so durch
den Gegensatz den eigenartigen Inhalt der Ge-
rechtigkeit im Unterschied von den übrigen Tugen-
den heraustreten ließe. Es ist dies nur die andere
Seite des schon oben gerügten Mangels. So nahe
der Philosoph gelegentlich daran rührt, so fehlt
doch die volle Anerkennung der dem Menschen als
solchem eignenden, ursprünglichen, rechtlichen Be-
sugnisse, die aus dem Zweck und der auszeich-
nenden Beschaffenheit der Menschennatur stammen
und in denen das innere Maß des Gerechten und
Ungerechten liegt. Der Mangel wird nicht dadurch
aufgewogen, daß Aristoteles bestimmt und un-
zweideutig ein natürliches Gerechtes anerkennt und
dasselbe in seiner Unveränderlichkeit dem bloß
politisch Gerechten gegenüberstellt, d. h. demjenigen,
was in einem bestimmten Staat auf Grund seiner
besondern Einrichtung Rechtens ist. Denn es wird
nirgends der Versuch gemacht, jenes von Natur
Gerechte nun auch aus der Natur abzuleiten. Es
erscheint wohl als dasjenige, worauf als auf das
Beste die Natur hinzielt und zu welchem sie an-
treibt, nicht aber als die unzweideutige Norm, mit
welcher die positiven Satzungenin Ubereinstimmung
zu bringen sind.
Statt dessen wird der ersten Einteilung alsbald
eine zweite an die Seite gestellt und die Gerech-
tigkeit in der engeren Bedeutung nochmals in
eine Zweiheit gespalten. Aristoteles wird hier der
Urheber der bekannten, unzähligemal nachgesproche-
nen Unterscheidung zwischen austeilender und
ausgleichender Gerechtigkeit, iustitia distri-
butiva und justitia commutativa. Bei der
ersteren handelt es sich um die Verteilung staats-
bürgerlicher Vorzüge und gemeinsamen Besitzes
an die einzelnen, bei der andern um die Auf-
hebung und Verhinderung von Rechtsverletzungen.
Jenes Merkmal des Gleichmäßigen soll bei der
ersten in Gestalt einer geometrischen Proportion
zutage treten. Die austeilende Gerechtigkeit ist
gewahrt, wenn das, was der eine an Ehren und
Vorteilen bekommt, zu dem dem andern Zuge-
wiesenen sich ganz ebenso verhält wie das Verdienst
oder die Würdigkeit des ersten zu dem Verdienst
oder der Würdigkeit des zweiten. Bei der aus-
gleichenden Gerechtigkeit soll es dagegen nicht auf
die Würdigkeit der Person, sondern lediglich auf
den Wert der Sachen ankommen. Sie verlangt
in Verträgen, daß jeder gleichviel erhalte, und
verlangt, daß, wer Unrecht getan hat, so viel
Aristoteles.
370
Nachteil zu erleiden habe, als er sich unrecht-
mäßigen Vorteil angeeignet hat. Hier soll dem-
gemäß die arithmetische Proportion gelten, in
welcher die Gliederpaare einander gleich sind. Die
Gerechtigkeit ist gewahrt, wenn das, was der eine
erhalten hat, abzüglich des unrechtmäßigerweise
angemaßten Überschusses, ebensoviel beträgt als
das dem andern ursprünglich Zugefallene samt
dem jenem ersten Entzonenen und diesem zweiten
nachträglich Beigelegten. Und Aristoteles will
hierunter nicht nur die Verträge der verschiedenen
Art zusammengefaßt wissen, nicht nur Kauf und
Verkauf, Anlehen, Vermietung usw. sollen danach
bemessen werden, sondern auch diejenigen For-
derungen, welche ihren Ursprung in erlittenem
Unrecht haben, sei dies heimlich oder in offener
Gewalttat zugefügt. Als Verhältnisse solcher Art
werden aufgezählt einerseits Diebstahl, Ehebruch,
Vergiftung, Verführung, Betrug, Meuchelmord,
falsches Zeugnis, anderseits Mißhandlung, Frei-
heitsentziehung, Totschlag, Raub, Verstümme-
lung, Beschimpfung, Verhöhnung. Aber Aristo-
teles kommt sofort mit seiner Auffassung ins
Gedränge, ganz abgesehen davon, daß es ein
Mangel ist, wenn zwischen Schadenersatz und
Strafe nicht geschieden wird. Schon beim Tausch
herrscht nicht arithmetische Gleichheit, er geschieht
nicht zwischen denselben, sondern zwischen ver-
schiedenen, aber an Wert gleichen Gegenständen.
Aristoteles kann nicht in Abrede stellen, daß auch
hier vielmehr das Verhältnis der geometrischen
Proportion gilt; wie sich die Ware des einen zu
der des andern verhält, so hat sich das, was jener
bekommt, zu dem, was dieser bekommt, zu ver-
halten. Aber auch in der Strafrechtspflege ist es
nicht anders, und daß hier allerdings, der früheren
Aussage zuwider, die Person des Verletzenden wie
die des Verletzten mit in Frage kommt, wird ge-
legentlich ausdrücklich anerkannt.
So genügt die Erörterung gerade da nicht, wo
es sich um Hauptpunkte handelt. Weder wird die
Norm, an welcher sich herauszustellen hat, was
rechtmäßig oder gerecht ist, mit zweifelloser Klar-
heit bestimmt, noch auch wird der Versuch gemacht,
dasselbe aus einem höheren Prinzip abzuleiten.
Ob eine bessere Überlieferung des vielfach zer-
rütteten Textes diese Mängel beseitigen würde, ist
zweifelhaft. Im Besitz der bereicherten und be-
richtigten Vorstellungen, welche die dazwischen
liegende römische Rechtswissenschaft zutage geför-
dert hatte, haben die Erklärer die schwankenden
Begriffe festgestellt und die Lücken ausgefüllt, ohne
sich bewußt zu werden, daß sie damit fremde Be-
standteile in den ursprünglichen Gedankengang
hineintrugen. Ubrigens mag nochmals hervor-
gehoben werden, daß für den letzteren nicht der
juridische, sondern der ethische Gesichtspunkt der
maßgebende ist. Nicht in der äußerlichen Über-
einstimmung der Handlung mit dem Gesetz wird
darum das entscheidende Kriterium der Gerechtig-
keit erblickt, sondern in der innern Gesinnung,