Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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welche auf diese Ubereinstimmung als auf ihr Ziel 
gerichtet ist. Endlich aber dient die Unterscheidung 
zwischen dem natürlichen Gerechten und dem Ge- 
setzlichen zur Aufstellung des Begriffs der Bil- 
ligkeit. Das Gesetz, das seiner Natur nach ein 
allgemeines ist, kann unmöglich die sämtlichen 
Einzelfälle in ihrer wechselnden Eigenart treffen. 
Billig handelt alsdann der Richter, der nicht nach 
dem Buchstaben verfährt, sondern das positive 
Recht durch die natürliche Gerechtigkeit berichtigt 
oder ergänzt. 
Die aristotelischen Gedanken zur philoso- 
phischen Staatslehre enthalten die acht 
Bücher der Politik. Eine Vorarbeit hierzu bildeten 
die Politien, eine Sammlung von 158 hellenischen 
und barbarischen Verfassungen, unter denen die 
von Athen neuerdings ans Licht gezogen worden ist 
(hrsg. von Kenyon, 1891). Ein Elemend deraristo- 
telischen Ethik scheint, konsequent entwickelt, über 
die antike Auffassung vom Staat und seinem alles 
überragenden Wert hinauszuführen; es ist dies 
der Vorrang, welcher ausdrücklich dem Leben der 
Erkenntnis und Wissenschaft vor dem der prak- 
tischen Betätigung zuerteilt wird. Sätze, welche 
die denkende Betrachtung als den Gipfel der Glück- 
seligkeit preisen, scheinen den andern zu wider- 
sprechen, welche im Sinn der hergebrachten grie- 
chischen Meinung die vollkommenste Verwirklichung 
der Sittlichkeit im Staat erblicken und den 
Zweck der Gesamtheit dem des einzelnen als den 
höheren gegenüberstellen. Von zwei Seiten her 
läßt sich jedoch der Widerspruch auflösen. Einmal, 
sofern Aristoteles die andauernde und ausschließ- 
liche Hingabe an das erkennende Leben deutlich der 
Gottheit vorbehalten und ohne Aufgabe des höch- 
sten Zieles doch zugleich die Menschennatur, wie 
sie wirklich ist, in Betracht gezogen wissen will. 
Gleichwie der Besitz äußerer Güter nicht die Glück- 
seligkeit ausmacht, ein gewisses Maß derselben 
jedoch die notwendige Voraussetzung dafür bildet, 
so ist staatliches Leben nicht das Höchste an sich, 
aber die staatliche Gemeinschaft die unentbehrliche 
Grundlage, ohne welche auch für den einzelnen 
das Höchste sich nicht erreichen läßt. Sodann 
aber wird im Zusammenhang von Ausführungen, 
welche nicht in den Werken des Kriegs, sondern 
in denen des Friedens die Aufgabe des Staates 
zu erblicken anleiten, zu den ersteren ausdrücklich 
die Beschäftigung mit Wissenschaft und Philosophie 
gerechnet. Es schwebt dem Aristoteles das Ideal 
eines Staatswesens vor, welches dem einzelnen die 
freie Muße sicherstellt, sich den höchsten Bestre- 
bungen des Menschengeistes hinzugeben, welches 
zugleich durch Erziehung den Sinn dafür weckt 
und fördert; aber er kennt keinen feindlichen Gegen- 
satz zwischen diesen Bestrebungen und der staats- 
männischen Tätigkeit, er weiß, daß es immer 
nur einzelne sind, welche den ersteren nachgehen 
werden, und auch von diesen sieht er es als selbst- 
verständlich an, daß sie dem auf vernünftiger 
Grundlage errichteten freien Staatswesen gern 
Aristoteles. 
  
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ihre Kraft leihen. So verwirklicht sich im Staat 
das „menschliche Gute“ nach seinem ganzen Um- 
fang, der Zweck des Staats umfaßt in harmo- 
nischer Zusammenordnung die sämtlichen Mensch- 
heitszwecke, und er kann insofern ohne Widerspruch 
dem Zweck des einzelnen als der höhere gegenüber- 
gestellt werden. Der Mensch ist von Natur für 
das Leben im Staat bestimmt. Das Bedürfnis 
weist die einzelnen aufeinander hin, und in der 
Sprache besitzt der Mensch zugleich ein Mittel des 
Verkehrs und der Geselligkeit, welches ihn weit 
über alle andern lebenden Wesen erhebt. Aber der 
Staat soll nicht bloß Schutz und Förderung des 
äußeren Daseins gewähren, er ist etwas anderes 
als eine Bundesgenossenschaft oder eine Handels- 
kompanie; er entsteht zwar, wie Aristoteles sagt, 
um des Lebens willen, er besteht aber um des 
guten Lebens willen, sein Ziel liegt in der Glück- 
seligkeit und ebendarum in der tugendhaften Be- 
tätigung der Bürger; er ist die Verbindung der 
Familien und Gemeinden zum Zweck eines voll- 
endeten, in jeglicher Richtung sich selbst genügen- 
den Lebens. 
In bemerkenswerter Weise weicht Aristoteles 
durch diese Auffassung von seinem Lehrer Plato 
ab. In dem platonischen Idealstaat übernehmen 
die Philosophen nur ungern und notgedrungen, 
wenn die Reihe sie trifft, praktische Staatsgeschäfte, 
um so bald als möglich zur Betrachtung der 
Ideen zurückzukehren. Aber Aristoteles wendet sich 
auch direkt gegen die platonischen Aufstellungen. 
Dem einseitigen Idealismus derselben setzt er das 
Recht der wirklichen Welt und der gegebenen Ver- 
hältnisse entgegen. Was er gegen die Forderung 
der Weiber= und Gütergemeinschaft vorbringt, 
können auch moderne Kommunisten noch mit 
Nutzen lesen. Mit einer sorgfältigen Würdigung 
der die beiden Geschlechter auszeichnenden Cha- 
raktereigenschaften verbindet sich bei ihm eine weit 
tiefere Auffassung der Ehe als die platonische. 
Der Mann ist zur Herrschaft berufen, aber nur 
wer selbst sklavischer Natur ist, wird das Weib zur 
Sklavin erniedrigen. Die Frau soll die freie Ge- 
nossin des Mannes sein, und aus der physischen 
Grundlage, aus der wechselseitigen Ergänzung und 
Hilfeleistung, aus der gemeinsamen Pfflege der 
Tugend soll ein Verhältnis sittlicher Lebensgemein- 
schaft erwachsen. Die Stellung der beiden Ehe- 
gatten zueinander wird mit einer aristokratischen 
Verfassung verglichen, die des Vaters zu den 
Kindern mit einer monarchischen. Denn hier be- 
steht keine Gleichheit der Rechte, die Kinder gehören 
gewissermaßen dem Vater zu eigen, von Natur 
sind sie ihm zur Unterwerfung und Gehorsam- 
leistung verbunden. Der Vater aber hat die Pflicht, 
für das physische und geistige Wohlergehen der 
Kinder zu sorgen. Nicht in der Auflösung aller- 
Familienbande, sondern in der richtigen und ver- 
nunftgemäßen Wahrung der Beziehungen, welche 
die Familie einschließt, liegt die Vorbedingung 
für ein wohlgeordnetes Staatswesen.
	        
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