Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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Bevölkerung von kriegerischer Tüchtigkeit und 
mittlerem Wohlstand verträgt, wie er meint, keine 
andere Verfassungsform. Sie gewährleistet am 
meisten den dauernden Bestand des Staatswesens, 
in ihr wird das gemeine Wohl und die Gerechtig- 
keit gegen alle am besten gewahrt. — Von allen 
Verfassungen die schlechteste ist die Tyrannis. 
Auch sie kann in verschiedenen Formen und Graden 
auftreten, ihre eigentliche Natur entfaltet sie da, 
wo ein einzelner im Interesse seines privaten 
Nutzens und gegen den Willen des Volks unum- 
schränkt regiert. — Aus den weiteren Erörterungen 
mag endlich noch auf die über die Veränderung 
und den Untergang der einzelnen Staatsformen 
und die Mittel zu ihrer Erhaltung besonders hin- 
gewiesen werden. Hier wird der Gedanke durch- 
geführt, daß eine jede Verfassungsform durch Über- 
treibung ihrer Eigenart sich selbst zugrunde richtet, 
während umgekehrt eine kluge, maßvolle Verwal- 
tung die Mängel einer schlechten Verfassung zu 
ergänzen und auszugleichen vermag. Näher auf 
die vielen treffenden Einzelbemerkungen einzugehen, 
verbietet der zugemessene Raum. 
Literatur. Ausgaben der Nikomachischen 
Ethik u. der Politik von I. Bekker, Barthelemy 
Saint-Hilaire, Susemihl (Die Politik, griechisch u. 
deutsch, 2 Bde, 1879) u. vielen andern. E. Zeller, 
Die Philosophie der Griechen TI II, Abt. 2 (61879); 
Hildenbrand, Gesch. u. System der Rechts= u. Staats- 
philosophie (1860); Oncken, Die Staatslehre des 
A. (2 Tle, 1870/75); Bradley, Die Staatslehre 
des A. (deutsch von Immelmann, 1884); Prantl, 
Art. „A.“ in Bluntschlis Staatswörterb. 1 (1857). 
lv. Hertling.) 
Armeze s. Heerwesen. 
Armenpflege. I. Begriff und Ur- 
sachen der Armut. Hilfsbedürftige Arme 
sind diejenigen Personen, welche die nach Sitte, 
Gewohnheit und Anschauung der Umgebung zur 
Erhaltung der eigenen und der Existenz der un- 
selbständigen Familienangehörigen unentbehrlichen 
Mittel weder besitzen noch sich verschaffen können 
oder dieselben tatsächlich sich nicht beschaffen. 
Die Billigkeit verlangt, daß bei Feststellung der 
Armutsursachen die Armut aus subjektiver Ar- 
beitsunfähigkeit, aus Arbeitsscheu und aus ob- 
jektiver Unmöglichkeit, Arbeit zu finden, aus- 
einandergehalten werden. Erwerbsunfähige Arme 
sind jene, welche wegen Jugend, hohen Alters, 
Krankheit oder schwerer Gebrechlichkeit nicht arbei- 
ten können („unverschuldete“ persönliche Armut). 
Zur zweiten Kategorie der Armen gehören jene, 
welche, obwohl erwerbsfähig, dennoch nicht arbei- 
ten und erwerben wollen (, selbstverschuldete"“ 
Armut). Drittens gibt es namentlich heutzutage 
nicht selten Erwerbsmangel bei Erwerbslust, also 
erwerbsfähige Arme, welche wegen Mangels der 
Arbeitsgelegenheit, wegen ungenügender Löhnung, 
wegen Störung und Hemmung der Erwerbs-, 
Produktions= oder Absatzverhältnisse nichts oder 
nicht genügend erwerben können (sog. „wirt- 
schaftliche“ Armul). — Die Ursachen der un- 
Armece — Armenpflege. 
  
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verschuldeten Armut: körperliche und geistige 
Arbeitsunfähigkeit bei Kindern, Gebrechlichen, 
Greisen, ungenügende Arbeitsfähigkeit bei Kranken, 
Unglücksfälle, z. B. Tod des Familienvaters u. dgl., 
werden nie aufhören. — An der verschuldeten 
Armut tragen Arbeitsscheu und Müßiggang, Un- 
wirtschaftlichkeit, Unsittlichkeit und Liederlichkeit, 
Trunksucht u. dgl. die Schuld. Was die Trunk- 
sucht anbelangt, so ist diese freilich fast ebenso oft 
die Folge als die Ursache hoffnungsloser und elen- 
der Lebenslage. — Im Gegensatz zu Einzelarmut 
steht die wirtschaftliche Armut der Bevölke- 
rung oder größerer Klassen derselben. Vorüber- 
gehende Ursachen dieser Art Armut können liegen 
in den Produktionsverhältnissen (Produktion für 
ferne Länder), in Krisen, Kriegen, in Anderung der 
Zollpolitik, in Ernteverhältnissen usp. Dauernde 
Ursachen der wirtschaftlichen Armut liegen im Miß- 
verhältnis zwischen Bevölkerung und Beschäftigung, 
leichtsinniger Eheschließung, schlechter wirtschaft- 
licher Organisation. Spielten unter den äußeren 
Umständen früher Naturereignisse, wie Mißwachs, 
eine große Rolle, so treten heute mehr solche in 
den Vordergrund, welche Anderungen der sozialen 
Verhältnisse und der Technik (Anderungen der 
Verkehrseinrichtung, Vernichtung des Handwerks 
durch die Großindustrie usw.) entspringen. Die 
Zahl der infolge solcher allgemein wirtschaftlicher 
Vorgänge Verarmten und von Verarmung Be- 
drohten, deren Existenzmittel gerade zur Fristung 
des Lebens ausreichen, bildet in allen Kulturländern 
einen bedeutenden Bruchteil der Gesamtbevölkerung 
und droht immer mehr zu wachsen. 
II. Grundzüge des Armenpflege- 
rechts. 1. Die Gesamtheit der Maßregeln zur 
Beseitigung bzw. Milderung der Armut bildet den 
Gegenstand der Armenpflege. Je nach dem 
Träger der Armenpflege unterscheidet man die 
öffentliche, bürgerliche oder Zwangs- 
Armenpflege (Träger: bürgerliche öffentliche 
Korporationen, Armenverbände, Gemeinden, Kreise, 
Provinzen), die kirchliche Armenpflege 
(Träger: Kirchengemeinde, Ordensgenossenschaften) 
und die Privatarmenpflege (Träger: Pri- 
vatvereine, einzelne Personen, Stiftungen). Die 
Armenpflege der Ordensgenossenschaften wird auch 
oft zur Privatarmenpflege gerechnet und als kirch- 
liche Armenpflege nur diejenige der Kirchengemein- 
den, der Pfarreien, bezeichnet. Kein Kulturstaat 
entbehrt heute der öffentlichen Armenpflege in 
obigem Sinn. Die öffentlichen Verbände befassen 
sich überall mit der Pflege der Armen, sei es auf 
Grund gesetzlicher Verpflichtung oder freiwillig. 
Je nach dem Vorhandensein einer rechtlichen Ver- 
pflichtung zur Armenpflege und zur Aufbringung 
der entsprechenden Mittel unterscheidet man auch 
die Zwangsarmenpflege von der frei- 
willigen Armenpflege. Die freiwillige 
Armenpflege tritt ein, wenn und soweit sie will 
und kann. Auch die öffentlichen Verbände können 
sich an der freiwilligen Armenpflege in diesem
	        
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