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Sinn beteiligen. Die Zwangsarmenpflege wird
nur von öffentlichen Verbänden, und zwar auf
Grund gesetzlicher Verpflichtung ausgeübt. Ihre
Mittel nimmt sie, in Ermanglung von andern,
aus Steuern. Diese Mittel sind theoretisch un-
beschränkt; sie müssen so groß sein, daß die Armen-
pflege allen Fällen der Hilfsbedürftigkeit gerecht
werden kann. Die Zwangsarmenpflege hat ent-
weder für alle Arten von Hilfsbedürftigkeit oder
nur für bestimmte Arten zu sorgen, z. B. nur für
Geisteskranke oder für verlassene Kinder oder nur
für Kranke usw. Man spricht im letzteren Fall
von einer beschränkten Zwangsarmen-
pflege. Innerhalb des Umfangs ihrer Ver-
pflichtung ist aber jede Zwangsarmenpflege eine
unbedingte. Sie muß jedem Hilfsbedürftigen die
erforderliche Hilfe gewähren.
2. Die Frage, ob und inwieweit die staatliche
Zwangsarmenpflege berechtigt ist, darf in der
Praxis als eine überwundene angesehen werden.
Man sieht immer mehr ein, daß die öffentliche
Armenpflege unter den heutigen Verhältnissen un-
entbehrlich sei, daß eine öffentlich-rechtliche Ver-
pflichtung besteht, den Bedürftigen im Notfall zu
unterstützen und ihm die physische Existenz zu er-
halten. Prinzipiell muß verlangt werden, daß für
den notwendigen Unterhalt des Bedürftigen, für
das Existenzminimum, immer ein öffentlicher Ver-
band verpflichtet ist. Dabei bleibt der ausführen-
den Gesetzgebung überlassen, zu bestimmen, wann
Hilfsbedürftigkeit vorliegt und welches Maß von
Unterstützung zu gewähren ist. Ein Mißbrauch
der öffentlichen Behörden ist bei der Zwangs-
armenpflege naturgemäß in geringerem Maß als
bei der durch die öffentlichen Behörden geübten frei-
willigen Armenpflege möglich. Überflüssig würde
die öffentliche Armenpflege nur dann sein, wenn
die organisierte kirchliche und Privatarmenpflege
die Rechtspflicht der Unterstützung übernähme und
wenn sie ferner in ihrer Organisation und in ihren
Mitteln allen Ansprüchen genügte. Unter den heu-
tigen Verhältnissen werden diese Forderungen aber
kaum erfüllbar sein. Neben der öffentlichen Armen-
pflegebleibt derorganisierten kirchlichen und Privat-
armenpflege ein recht umfangreiches Gebiet nutz-
bringender Tätigkeit. Daher ist notwendig, daß
der Staat den Bestrebungen der freien Liebes-
tätigkeit nicht nuur größte Bewegungefrei-
heit gebe, sondern dieselbe in jeder Beziehung
unterstütze. Eine außerordentlich bedeutsame Frage
ist, die Formen für das richtige Zusammenwirken
der öffentlichen Armenpflege und der freien Liebes-
tätigkeit zu finden und die gesetzliche Festlegung,
welchem öffentlich-rechtlichen Verband die Ver-
pflichtung zur Armenpflege obliegen soll. In der
Hauptsache ist diese Frage wohl eine Zweckmäßig-
keitsfrage. Die Freizügigkeit, die Freiheit der
Niederlassung, die Freiheit der Eheschließung, die
Freiheit, in jeder Gemeinde ein Gewerbe zu trei-
ben und Grundeigentum zu erwerben, hat den
Gemeinden jeden Einfluß auf die Zahl und Art
Armenpflege.
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ihrer „Bürger“ genommen. Die Gemeindeobrig-
keit kann, abgesehen von einigen gesetzlich fest-
gelegten Ausnahmen, niemand verhindern, sich
im Gemeindegebiet anzusiedeln. Ein Gemeinde-
verband im alten Sinn besteht nicht mehr, ebenso-
wenig eine „Aufnahme“ als Bürger. Lediglich
der Aufenthalt macht den einzelnen zum Bürger.
Diese Verminderung der Rechte der Gemeinden
hat denn auch schon zu bem Vorschlag geführt, die
Armenlasten als Staatslasten zu erklären. Man
soll indessen den Staat nicht mit Aufgaben be-
lasten, die von engeren oder weiteren Kommunal=
verbänden in besserer Weise gelöst werden können.
So hält man denn heute allgemein daran fest,
daß die Armenverwaltung und die Aufbringung
der Armenkosten im wesentlichen Sache der
Gemeinden sei.
3. Am Ende des 18. Jahrh. beschäftigte man
sich in verschiedenen Staaten mit der Frage der
Neuorganisation der Armenpflege, so in Hamburg
1791 auf Anregung von Büsch, in Osterreich unter
Joseph II., in Bayern nach Fingerzeigen des
Grafen Rumford. In Bezug auf die Frage, welcher
Gemeinde die Armenfürsorge obliegen soll, standen
in Deutschland bis zum Erlaß des Reichsgesetzes
über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni 1870
zwei Systeme einander gegenüber, die man mit
den Schlagworten bezeichnete: „„eimatrecht"
und „Unterstützungswohnsitz“. Das Heimat-
recht bedeutete die Zugehörigkeit zu einer bestimmten
Gemeinde und wurde nach den verschieden gestal-
teten Gesetzgebungen grundsätzlich nur durch Ge-
burt in der betreffenden Gemeinde oder durch aus-
drückliche Aufnahme in den Gemeindeverband er-
worben, außerdem aber auch durch Aufenthalt,
wenn bestimmte weitere Voraussetzungen, wie Un-
bescholtenheit, polizeiliche Anmeldung, selbständige
Wirtschaft usw., hinzutraten. Lediglich durch Auf-
enthalt wurde aber das Heimatrecht nicht erworben.
Verloren wurde das Heimatrecht nicht, es sei denn,
daß ein neues Heimatrecht an einem andern Ort
erworben wurde; Heimatlose gab es also nicht.
In Preußen wurde nach dem Allgemeinen Land-
recht die Unterstützungspflicht der Gemeinde schon
durch die Zahlung der Gemeindeabgaben begrün-
det. Das Gesetz vom 31. Dez. 1842 führte dann
ausdrücklich die Freizügigkeit ein. Der Unter-
stützungswohnsitz wurde nach erlangter Volljährig-
keit durch mindestens dreijährigen ununterbrochenen
Aufenthalt in der Gemeinde erworben. Die Unter-
stützungspflicht für Personen ohne Unterstützungs-
wohnsitz lag den Landarmenverbänden ob. Das
Gesetz über den Unterstützungswohnsitz vom 6. Juni
1870, welches zuerst als Norddeutsches Bundes-
gesetz erlassen und später auf Hessen, Württemberg
und Baden ausgedehnt wurde, jetzt für ganz
Deutschland mit Ausnahme von Bayern und
Elsaß-Lothringen gilt, ist von dem Grundgedanken
der dezentralisierten Hilfeleistung nach dem Auf-
enthaltsprinzip getragen und unterscheidet die
Ortsarmenverbände und die Landarmen-