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verbände. Die ersteren haben zu leisten: a) eine losigkeit, Krankheit, Alkoholismus, Verschwendung
vorläufige Unterstützung allen Hilfsbedürftigen oder mangelhafte Führung des Haushalts die
ihres Bezirks, erhalten aber Ersatz ihrer Kosten Schuld tragen. Der Kampf ist dann gegen die
von der Gemeinde, wo der Arme Unterstützungs= Hauptursache der Armut zu führen, der Hebel ist
wohnsit besitzt; bh endgültige Unterstützung an dem Punkt anzusetzen, aus welchem als ge-
allen Armen, welche innerhalb des Bezirks Unter= meinsamer Basis das Übel sich ergibt. Die öffent-
stützungswohnsitz erworben, indem sie entweder liche Armenpflege ist am besten lokal und indivi-
nach vollendetem 16. Lebensjahr ein Jahr un- dualisierend. Während bei der in den Händen des
unterbrochen dort gewohnt haben oder sich mit Behördenorganismus konzentrierten Armenpflege
383 Armenpflege.
einem Mann verheiratet haben, welcher dort Unter-
stützungswohnsitz besitzt, oder als eheliche Kinder
eines im Besitz des dortigen Unterstützungswohn-
sitzes befindlichen Vaters. Die Landarmenverbände
umfassen entweder ganze Bundesstaaten oder grö-
Pere Distrikte in diesen, z. B. Provinzen, und haben
einerseits endgültige Hilfe allen Personen ohne
Unterstützungswohnsitz zu leisten, sowie anderseits
in Preußen die Anstalten für gewisse Klassen
von Unglücklichen, wie Blinden, Geisteskranken,
Epileptikern usw., zu unterhalten.
Durch Untersuchungen des Deutschen Vereins
für Armenpflege und Wohltätigkeit ist festgestellt,
daß unsere Armengesetzgebung die Möglichkeit
bietet, daß eine weitere Hilfe geboten werden könnte,
als meistens nach der Praxis geleistet wird. Durch
eine Novelle zum Gesetz über den Unterstützungs-
wohnsitz vom Jahr 1908 ist mit Rücksicht auf die
stetig wachsende Landflucht und die steigenden
Lasten von manchen Landgemeinden, in denen
die jüngeren Leute abgewandert sind und arbeits-
unfähige Angehörige zurückgelassen haben, das
Alter zur Berechnung für den Unterstützungs-
wohnsitz vom 18. auf das 16. Lebensjahr herab-
gesetzt und die Frist zum Erwerb von 2 auf
1 Jahr abgekürzt worden. Für Bayern gilt das
Gesetz vom 30. Juli 1899, in Elsaß-Lothringen
ist die örtliche Armenpflege nach französischen
Grundsätzen fakultativ. Vgl. d. Art. Unterstützungs-
wohnsitz, Heimat und Heimatsrecht.
III. Organisation der Armenpflege.
1. Das Armenwesen erfordert eine Organisation,
welche die Einzelverhältnisse der Unterstützten richtig
zu würdigen imstande ist, die entsprechende Art der
Unterstützung, ob durch Geld, Naturalien, Be-
schaffung von Wohnung, Anschaffung von Er-
werbsmitteln, Aufnahme in ein Armenhaus u. dgl.,
vorschlägt, die weitere Pflege bzw. die Gestaltung
dieser individuellen Verhältnisse überwacht und den
haushälterischen Sinn wieder zu wecken sucht.
Mehr als auf jedem andern Gebiet ist daher auf
dem des Armenwesens Dezentralisation, Selbst-
leicht eine Uberschätzung der groß scheinenden
Mittel der Armenfonds sich einstellt, kann die
Gemeinde eine wohlfeile und doch sehr gut funk-
tionierende Armenpflege ausüben, indem sie ehren-
amtlich tätiger Helfer (Armenpflege)) sich
bedient, welche den einzelnen Pflegefall genau
untersuchen, den Unterstützten während der Dauer
der Unterstützung sorgfältig überwachen und ihm
insbesondere zur Wiedererlangung wirtschaftlicher
Selbständigkeit behilflich sind. Musterhaft ist diese
individualisierende und dezentralisierende Armen-
pflege durchgeführt in dem sog. Elberfelder
System. Es ist, wie Muensterberg (Die Armen-
pflege 42 (1897)) hervorhebt, nichts anderes als
die alte christliche Gemeindepflege, allerdings mit
sehr zweckmäßiger Verknüpfung seiner Elemente
mit der modernen bürgerlichen Gemeinde. Die
Grundzüge dieses Systems, das in Elberfeld im
Jahr 1852 durch Daniel v. d. Heydt eingeführt
wurde, sind im wesentlichen folgende: Der Orts-
armenverband wird in eine Anzahl „Armenbezirke“,
jiedder Bezirk in „Quartiere“ eingeteilt. An der
Spitze eines jeden solchen Bezirks steht ein von
der Gemeindevertretung gewählter, im Ehrenamt
befindlicher Bürger, der „Bezirksvorsteher“. Unter
demselben sind eine Anzahl Bürger als „Armen-
pfleger“, für jedes Quartier je einer, tätig. Es
sollen so viele Quartiere und Pfleger sein, daß
auf jeden Pfleger nicht mehr als 3—4 unterstützte
Familien entfallen. Periodisch alle 14 Tage oder
allmonatlich vereinigen sich die Armenpfleger unter
dem Vorsitz des Bezirksvorstehers und stellen selb-
ständig die für die kommende Periode zu bewilli-
genden Unterstützungen ihrer Pflegebefohlenen fest.
Die bewilligte Summe wird im voraus von der
Armenkasse an den Bezirksvorsteher, von diesem
an den Armenpfleger und von letzterem in Wochen-
gaben an die Armen selbst gezahlt. Der Armen-
pfleger soll zu den Unterstützten ins Haus gehen,
dort zahlen und so den Unterstützten fortwährend
in Kontrolle behalten und als Berater der Armen
fungieren. Neuerdings bemüht man sich auch, durch
verwaltung und Beteiligung des bürgerlichen Heranziehung von Frauen zur Armenpflege, und
Elements mit seiner genauen Kenntnis der lokalen zwar koordiniert den Männern, die ehrenamt-
und individuellen Verhältnisse geboten. Der ver= liche Tätigkeit weiter auszudehnen und zu ver-
hängnisvollste Irrtum jeglicher Armenpflege ist bessern. In den meisten Städten sind in der
die Identifizierung von Almosengeben und Armen= Armenordnung als Maß für die Höhe der Unter-
pflege. Wahre Armenpflege erstrebt nicht vorüber= stützung gewisse Normen angegeben; man stellt
gehende Unterstützung, sondern dauernde Hilfe, z. B. eine feste Skala auf für Bedürfnisse einer
Hilfe zur Selbsthilfe. Es bedarf in jedem einzelnen Familie je nach der Anzahl der Köpfe, rechnet den
Fall einer eingehenden Untersuchung über die Verdienst und die sonstigen Einnahmen zusammen
Grundlage der Armut, besonders ob Arbeits= und sagt dann: An der Minimalbedürfnissumme