Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

387 
bender, Laienapostolat und Volkspflege). Unter 
den katholischen Laienorganisationen haben am 
meisten Bedeutung die Vinzenzvereine und 
die Elisabethenvereine gewonnen. Beide 
haben dasselbe Prinzip wie das Elberfelder Sy- 
stem: persönliche Fürsorge für den Armen; 
dieses Prinzip gilt bei den Vinzenzvereinen aber 
lange vor der Schaffung des Elberfelder Systems, 
indem das Statut der Vinzenzvereine bereits aus 
dem Jahr 1836 stammt. Bezüglich der Auf- 
gaben der Vinzenzvereine ist zu beachten, daß 
nach ihren Prinzipien kein christliches Liebeswerk 
als dem Verein fremd betrachtet werden darf. 
Die deutschen Vinzenzvereine bedürfen einer 
eigenen zusammenfassenden Organisation und 
Zentralisation, ebenso der Einführung eines Ge- 
neralsekretariats. Hausarmenpflege, Beirat des 
Pfarrers in charitativen Gemeindeangelegenheiten, 
Hilfstätigkeit in der Seelsorge, diese Aufgaben 
müssen Vinzenzvereine und Elisabethenvereine als 
ihre Aufgaben betrachten. Reformen in der Or- 
ganisation der Vinzenzvereine sind in die Wege 
geleitet. Eine großartige Tätigkeit entfalten die 
Barmherzigen Schwestern; viel geringer 
ist die Tätigkeit der männlichen krankenpflegenden 
Orden, aber doch auch sehr achtunggebietend. Die 
evangelische Liebestätigkeit ist im wesentlichen 
organisiert in der Innern Mission (ogl. 
d. Art.). In der Arbeit für die Geringsten 
leistet, ebenfalls vom christlichen Gedanken aus- 
gehend, Großes die Heilsarmee (ogl. 
d. Art.). Von jüdischer Seite sind in den 
meisten Ländern besondere Vereine für soziale 
Hilfsarbeit gegründet, welche über große Geld- 
mittel verfügen, so die Jewish Colonisation 
Association und die Alliance Israélite Uni- 
verselle. Eine große Tätigkeit auf interkon- 
fessioneller Grundlage entfalten die Vaterlän- 
dischen Frauenvereine mit zahlreichen 
Zweigstellen (Kochschulen, Handarbeits= und 
Haushaltungsschulen, Volksküchen, Volkskaffee- 
häusern, Kleinkinderbewahranstalten, Erholungs- 
stätten usw.). 
3. Die Notwendigkeit einer organisierten 
Privatarmenpflege geht aus der Erwägung 
hervor, daß Wohltaten einzelner Personen, trotz 
des innewohnenden moralischen Wertes, schaden 
können, wenn sie planlos gespendet werden. Oft 
wird der zudringliche Bettler unterstützt, der ver- 
schämte Arme übersehen. In allen größeren 
Städten ist der einzelne nicht imstande, die Be- 
dürftigkeit derjenigen, die sich um Almosen be- 
werben, zu beurteilen, zu erforschen und jene 
genaue Kenntnis der Bedürftigkeitsgründe zu ge- 
winnen, die allenfalls in ländlichen Gemeinden 
verbreitet ist. Es muß sich daher die freiwillige 
Liebe in gemeinsamem Vorgehen, in Vereinen 
die Abhilfe der Not angelegen sein lassen. Diese 
Vereinigungen sollen sich sowohl mit der öffent- 
lichen als mit der kirchlichen Amenpflege ins 
Einvernehmen setzen. So können die Mängel der 
Armenpflege. 
  
388 
einen durch die Vorzüge der andern ausgeglichen 
und Zersplitterung und Verschleuderung der Gaben 
vermieden werden. Der Vorzug organisierter 
Privatwohltätigkeit vor der öffentlichen Armen- 
pflege besteht darin, daß sie den einzelnen Fall 
individuell richtig behandeln kann. Sie braucht 
nach keiner Instruktion, nach keiner Schablone zu 
arbeiten. Die öffentliche Armenpflege begnügt sich 
damit, dafür zu sorgen, daß niemand Hungers 
stirbt. Die private kann ein übriges tun. Die 
organisierte Privatarmenpflege ist imstande, die 
ganze Armenpflege im Fluß zu erhalten und sie 
nicht verknöchern zu lassen. Die freiwillige Armen- 
pflege als Vereinstätigkeit kann auch viel eher und 
gefahrloser neue Wirkungsgebiete der Armen- 
pflege versuchsweise in Angriff nehmen und nach 
erzieltem Erfolg der öffentlichen Armenpflege zur 
Weiterpflege überlassen. Die gesetzliche Armen- 
pflege übersieht leicht die angehende Verarmung, 
der verschämte Arme zieht sich vor ihr zurück, sie 
existiert für ihn nicht. Die obligatorische Armen- 
pflege wird vielfach mit wenig Geist und viel 
Routine betrieben, die freiwillig organisierte Wohl- 
tätigkeit dagegen stärkt Ehrgefühl und Mut der 
Bedürftigen und wirkt günstig auch auf die Wohl- 
täter selbst zurück. Welche von den betrachteten 
Organisationsformen zur Zeit im Einzelfall am 
passendsten ist und am segensreichsten wirken kann, 
hängt von den Umständen ab. Für Dörfer und 
kleinere Städte mit seßhafter Bevölkerung, wo 
so ziemlich jeder Einwohner jedem Einwohner mit 
allen seinen häuslichen und finanziellen Verhält- 
nissen bekannt ist, wird eine Organisation der 
Privatwohltätigkeit wegen der tatsächlichen Kon- 
trolle der Armen durch die Geber selbst weniger 
vonnöten sein. Für bestimmte Bedürfnisse ist die 
Vereinigung einer entsprechenden Anzahl Nachbar- 
gemeinden erforderlich; da werden dann Samm- 
lungen und Vermächtnisse gewöhnlich hinreichen 
zur Errichtung der nötigen Pflegeanstalten: eines 
Waisenhauses, eines Armenspitals, wo auch alters- 
schwache oder sonst an hinreichendem Verdienst 
gehinderte Personen Unterkommen und passende 
Beschäftigung finden. — Große Städte, In- 
dustriestädte, Seestädte charakterisieren sich auf 
der einen Seite durch die gesteigerte Zahl der 
Notdürftigen, die Unstetigkeit ihres Aufenthalts, 
das Anwachsen des arbeitsscheuen Proletariats, 
die ausgedehnte Tätigkeit der Armenpolizei und 
dadurch, daß die zu Unterstützenden in besondern 
Armenquartieren zusammengedrängt wohnen. Auf 
der andern Seite gibt es viele Geschäftsleute, 
welche gern bald größere bald kleinere Summen 
als Almosen spenden, sich jedoch nicht die Zeit 
nehmen, dieselben richtig zu verwenden. Hier ist 
besonders eine organische Annäherung der ge- 
samten Mildtätigkeit am Platz, etwa in der 
Form des Zusammentritts der Leiter der ein- 
zelnen Vereine, Anstalten, Stiftungen mit den 
Leitern der kichlichen und gemeindlichen bzw. staat- 
lichen Pflege zu regelmäßig wiederkehrenden Ver-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.