389
sammlungen (Konferenzen). Nur eine einheitlich
geleitete, mit tüchtigen Pflegkräften versehene frei-
willige Gemeindearmenpflege kann hier durch-
greifen. Die Privatwohltätigkeit muß Kenntnis
haben von anderweit gewährten Unterstützungen.
In dieser Hinsicht hat sich die Londoner Charity
Organisation Society einen Namen gemacht.
Um Unterstützung Bittende werden von den bei-
tragenden Mitgliedern einfach an die Organe der
Gesellschaft gewiesen. Diesen gelingt es durch ihre
Verbindung mit den Organen der offiziellen
Armenpflege und mit den verschiedenen Vereinen
und Anstalten der Privatwohltätigkeit, genaue
Informationen einzuziehen. So entsteht eine ein-
heitliche Leitung und Kontrolle, und die Privat-
wohltätigkeit erhält die Bürgschaft für die beste
Verwendung. — Für mittlere Städte, in welchen
die mittellose Bevölkerung eine seßhaftere ist und
sich nicht in ausgedehnten Armenvierteln zu-
sammengepfercht findet, ist eine Lokalisierung der
Hausarmen durch Einteilung in Distrikte nach Art
der Vinzenzvereine oder des Elberfelder Pfleg-
systems zu empfehlen.
4. Dort, wo die Kräfte der einzelnen sowie die
freiwilligen Vereinigungen zur Befriedigung eines
allgemeinen Bedürfnisses nicht ausreichen, wird
das Einschreiten der öffentlichen Gewalt als nötig
anerkannt werden müssen. Auch gibt es Aufgaben,
die nur durch die staatliche Zwangsgewalt gelöst
werden können, und Verhältnisse, die durch die
Gesetzgebung organisiert und geregelt werden
müssen. Soliegt der öffentlichen Gewalt die Hand-
habung der Armenpolizei ob, die Behandlung
der schuldbaren und arbeitsscheuen Armen. Indem
solche Individuen zur Arbeit angehalten werden,
wird der Gesamtproduktion der ihr von den ein-
zelnen entzogene Anteil zurückgegeben und zugleich
Lastern und Verbrechen vorgebeugt, die eine Folge
des unterhaltslosen und müßiggängerischen Lebens
sind. Ferner wacht die Legislative darüber, daß
sich die Armenlast nicht in ungerechter Weise auf
die einzelnen Armenverbände verteilt, sie regelt die
Alimentationspflicht und bestimmt, auf welche
Personen sich die Verpflichtung der einzelnen
Armenverbände zur öffentlichen Unterstützung er-
streckt, sie schließt Verträge mit andern Staaten
über die gegenseitige Behandlung der Armen und
Bettler. Eine staatliche Armenunterstützung liegt
in der Sportel= und Gebührenfreiheit aller Armen-
sachen, in der unentgeltlichen Behandlung der
Armen durch die vom Staat besoldeten Arzte, in
dem Recht der Armen auf Befreiung von den
Kosten eines bürgerlichen Rechtsstreits (sog. „Ar-
menrecht“ i. e. S.) unter der Voraussetzung, daß
Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung nicht
mutwillig oder aussichtslos erscheinen. Schließlich
gehört es zu den Aufgaben des Staats, in pro-
phylaktischer Weise diejenigen Vorkehrungen zu
treffen, durch welche der Armut vor ihrer Ent-
stehung vorgebeugt wird, also alle Maßregeln,
welche die körperliche, geistige und sittliche Ent-
Armenpflege.
390
wicklung der Staatsbürger fördern, Fürsorge
für Gesundheit, Sonntagsruhe, Nahrungsmittel,
Mietwohnungen, Vorsichtsmaßregeln bei verhee-
renden Krankheiten. Es verbleiben somit dem
Staat auf dem Gebiet des Armenwesens noch eine
stattliche Anzahl von Aufgaben. Vor allem fühle
er sich veranlaßt, Institutionen ins Leben zu
rufen, welche dem Eiptritt der Massenarmut ent-
gegenwirken, von der bei der heutigen Organi-
sation des wirtschaftlichen Betriebs in Zeiten der
Arbeitslosigkeit alle diejenigen Arbeiter bedroht
sind, die durch Arbeit in den Fabriken usw. nur
den zur Befriedigung des Lebensbedarfs gerade
hinreichenden Lohn erwerben. Lange Zeit reichten
Werke der Mildtätigkeit, Stiftungen für Be-
schaffung der Mittel hin. Erst die neuere
Zeit mußte auf besondere Zuflüsse und Ergänzung
aus den gewöhnlichen Kommunaleinkünften Be-
dacht nehmen. „Mit der christlichen Nächstenliebe
hält die politische Notwendigkeit der Armenpflege
einen Vergleich nicht aus. Die politische Armen-
pflege erschöpft ihre Mittel um so schneller, je mehr
sich das christliche Almosen davon zurückzieht"
(Mone). Die ewigen Stiftungen gingen aus der
Überzeugung hervor, daß auch die Bedürfnisse der-
selben bleibend seien, und aus diesem Grund schloß
man ihre Verwaltung an bestehende, ewige An-
stalten. Wo die Folgezeit die einen oder die andern
zerstört, hat sie nichts gewonnen; denn die wach-
senden Bedürfnisse lasten um so schwerer auf der
Gesellschaft, je mehr sie ihr Stiftungsvermögen
verschlungen hat. Da war es namentlich die Re-
formation, welcher (unter anderem infolge der zu
reichlichen Mittel) vorgekommene Mißbräuche einen
teilweisen Vorwand gaben zu Reformen und Maß-
reglungen der alten Stiftungen. Allein „#es wird
sich nicht leugnen lassen“, schreibt ein neuerer
Kenner des Armenwesens (Laves), „daß gerade
das Stiftungswesen in der neueren Zeit relativ
zurückgegangen ist. Das Mittelalter pflegte diesen
Zweig der Armenpflege entschieden mehr als unsere
Zeit. Charakteristisch ist, daß die beiden alten,
mittelalterlich reichen Städte Bayerns, Nürnberg
und Augsburg, mehr Stiftungskapital besitzen
als das mehr neuzeitliche München, trotzdem letz-
teres katholisch und zwei= bis dreimal größer ist
als jene beiden Städte."
Wo Stiftungsgelder, Kirchensammlungen und
Privatwohltätigkeit nicht hinreichend sind zur Er-
langung der Mittel, bleibt nichts anderes übrig,
als den ganzen Rest nach Steuergrundsätzen
zu beschaffen. Wo die Notleidenden in der christ-
lichen Nächstenliebe ihrer Mitmenschen die nötige
Unterstützung nicht finden, muß die öffentliche
Gewalt dieselbe beschaffen, schon um Gefährdung
der öffentlichen Ruhe abzuwenden. Es ist kein
Zufall, daß in protestantischen Ländern die Armen-
steuer zuerst um sich griff. Seit der Reformation
mehrten sich die Mittel schwach, die Stiftungen
wurden spärlich. Noch jetzt läßt sich zwischen
Ländern mit katholischer und solchen mit prote-
13“