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findet, billige Rücksicht nehmen wird. Anderseits
darf bei der Berufung durch Wahl die Anschauung
der Wählermehrheit unterstellt werden, der Ab-
geordnete werde dauernd den vorausgesetzten An-
schauungen entsprechend politisch tätig sein; ein
offensichtlicher Widerspruch des Abgeordneten mit
den Ansichten der Mehrheit seiner Wähler kann
daher geeignet sein, ihn zu veranlassen, seine
Stellung niederzulegen; eine rechtliche Verpflich-
tung dazu kann natürlich nicht in Frage kommen.
Nach dem Vorgang Montesquieus stellt eine
rechtsphilosophische Begründung dieser Stellung
des Abgeordneten denselben als den Mandatar
des gesamten Volkes hin, das seinen Willen nur
wegen der faktischen Unmöglichkeit, sich zu ver-
sammeln, durch seine Abgeordneten ausspreche, so
daß also hinter den Abgeordneten noch ein Volks-
wille stehe. Auf diesem Standpunkt steht offen-
bar die norwegische Verfassung, die sich wörtlich
(Art. 49) dahin ausspricht, daß die Nation ihre Ge-
setzgebungsgewalt durch ihr Organ, das Storthing,
ausübe. Eine andere Ansicht verwirft diese Fiktion
des Volkes als eines Rechtssubjekts neben dem
Staat und konstruiert ein „Volksethos“ als „die
lebendige Gesamtexistenz der Millionen Indivi-
duen mit ihrer geschichtlich gewordenen Volks-
tümlichkeit, mit ihren Lebensanschauungen und
Kulturaufgaben“, „als das sich durch alle Zeiten
hindurch bewegende, sich umgestaltende und doch
sich gleichbleibende Wesen, welches die Gegenwart
an die Vergangenheit anknüpft und aus der Gegen-
wart die Zukunft entwickelt". Dem gegenüber
macht die herrschende Lehre (Laband) geltend, daß
der Bezeichnung des Abgeordneten als Vertreters
des gesamten Volkes keine staatsrechtliche, sondern
nur eine politische Bedeutung innewohne; im juri-
stischen Sinn sei der Abgeordnete niemands Ver-
treter, weder der Wählerschaft seines Wahlbezirks
noch des gesamten Volkes; seine Befugnisse seien
überhaupt keine abgeleiteten; der Ausdruck wolle
besagen, die Repräsentantenversammlung sei das-
jenige Organ, durch welches der Anteil der Staats-
angehörigen an den Willensentschlüssen und der
Lebenstätigkeit des Staates vermittelt und aus-
geübt werde; jeder einzelne Staatsangehörige
könne nach näherer Bestimmung der Wahlvor-
schriften auf die Bildung des Organs einwirken,
mit dem einmaligen Akt der Bildung des Organs
höre aber der rechtliche Einfluß des gesamten
Volkes auf die Willensentschlüsse des Staats auf;
jedes Band zwischen den Abgeordneten und seinen
Wählern sei mit dem Wahlakt durchschnitten;
die gesetzgebenden Körperschaften seien daher nicht
mit Rücksicht auf ihre Rechte und Pflichten, sondern
mit Rücksicht auf ihre Bildung und Zusammen-
setzung Volksvertretungen, im übrigen aber selb-
ständige Staatsorgane. Daraus folge dann, daß
der Abgeordnete nicht als Beauftragter seiner
Wähler und Vertreter seines Wahlbezirks auf-
zufassen, nicht an Aufträge und Instruktionen ge-
bunden sei, sondern nur nach seinem eigenen pflicht-
Abgeordneter.
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mäßigen Ermessen seine Tätigkeit auszuüben habe,
weder seinen Wählern noch seiner Partei Rechen-
schaft schuldig sei, noch auch von ihnen wegen dieser
Tätigkeit zur Verantwortung gezogen werden könne.
III. Berufung, Wirkungskreis, Be-
endigung der Stellung. Im Sinn der letzt-
entwickelten Theorie trägt der Beruf des Ab-
geordneten den Charakter des öffentlichen Amtes
an sich. Für die Berufung sind von den ver-
schiedenen Verfassungen und Wahlgesetzen sehr
verschiedene Vorbedingungen aufgestellt worden.
An persönlichen Eigenschaften wird von dem zu
Wählenden allgemein nur verlangt, daß er männ-
lichen Geschlechts und Staatsangehöriger sei,
ein gewisses reiferes Alter erreicht habe, im Land
wohne, sich im Genuß der bürgerlichen Ehrenrechte
und nicht im Konkurs befinde und keine Armen-
unterstützung genieße; in verschiedenen Staaten
(Amerika, Australien, Finland) sind auch Per-
sonen weiblichen Geschlechts wählbar. Daneben
finden sich aber in den meisten Staaten die mannig-
faltigsten Beschränkungen der passiven Wahl-
fähigkeit. Das Nähere ist dem Artikel Wahl-
recht und Wahlfähigkeit zu überlassen; hier ist
nur noch folgendes zu erwähnen. Nicht selten ist
die Wählbarkeit von einem Zensus abhängig ge-
macht; wo das Zweikammersystem herrscht, kann
niemand beiden gesetzgebenden Körperschaften zu-
gleich angehören; die Mitglieder der zur Kontrolle
des Staatshaushalts eingerichteten Rechnungs-
behörden sind fast überall (so auch im Deutschen
Reich und in Preußen) ausdrücklich für unfähig
erklärt, Abgeordnete zu sein; in vielen Staaten
(Württemberg, Hessen, Baden, England, Nieder-
lande, Luxemburg, Italien, Spanien, Portugal,
Schweiz) wird dies weiter auf noch andere Katego-
rien von Rechnungsbehörden und Steuerbeamten
undauchaufandere Klassen von Staatsbeamten oder
auch auf Hofbeamte ausgedehnt, indem ihnen ent-
weder überhaupt oder nur innerhalb ihrer Amts-
sprengel die Wählbarkeit abgesprochen wird. Des-
gleichen findet sich, daß Unternehmern öffent-
licher Arbeiten (so Spanien, Portugal) oder Per-
sonen, welchesich ungesetzlicher Wahlbeeinflussungen
schuldig gemacht haben (Schweden, Finland),
die Wählbarkeit abgesprochen wird, oder Geist-
lichen, sei es allgemein oder nur innerhalb ihrer
Amtssprengel (Niederlande, Italien). Nach den
Vorschriften vieler Staaten (der meisten deutschen
Bundesstaaten) hat der Abgeordnete bei seinem
Eintritt in die gesetzgebende Körperschaft die Be-
obachtung der Gesetze oder auch bloß der Ver-
fassung oder die Erfüllung der Abgeordneten-
pflichten eidlich zu geloben; zuweilen tritt noch
das Versprechen, dem Monarchen gehorsam zu
sein (Preußen, Osterreich), hinzu. Die deutsche
Reichsverfassung kennt einen solchen Eid nicht.
Die niederländische Verfassung verlangt auch noch
eine Art Reinigungseid, worin sich der Abgeord-
nete von jedem mittelbaren oder unmittelbaren
Versuch der Bestechung bei den Wahlen frei er-