Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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stantischer Bevölkerung ein Unterschied erkennen. 
In Dänemark, Schweden, den Niederlanden, der 
Schweiz, Deutschland, Großbritannien müssen die 
Armenverbände die Summen aufbringen, die zur 
Versorgung aller Armen erforderlich sind. In 
Frankreich, Italien, Spanien besteht eine solche 
allgemeine Verpflichtung der Gemeinden usw. nicht. 
Die Leistungen der offiziellen (fakultativen) Armen- 
pflege Frankreichs richten sich nach den vorhandenen 
Mitteln. Dagegen betrachtet die obligatorische 
Armenpflege Deutschlands, Englands ein gewisses 
Maß der Leistungen als etwas Absolutes, so daß 
die zur Erfüllung dieses Maßes erforderlichen 
Mittel eben beschafft werden müssen. Als Nach- 
teil einer eigenen Armensteuer wird erwähnt, daß 
sie bei den Armen den Gedanken eines Rechts auf 
Unterstützung wecke, beim Steuerzahler den Trieb 
zu privater Wohltätigkeit hemme und durch ihre 
schwankende Höhe eine geordnete Deckung des 
öffentlichen Bedarfs erschwere. Man zieht es da- 
her vor, die Armenlast ins allgemeine Budget auf- 
zunehmen; die auf dem Kontinent vorkommende 
Armensteuer ist fast überall in der Gemeindesteuer 
enthalten. In Deutschland ist der örtliche Ver- 
band verpflichtet, die Mittel für die öffentliche 
Armenpflege auf dem Weg der Besteuerung der 
Eingesessenen, soweit die andern Quellen der Ar- 
menpflege nicht ausreichen, zu beschaffen. 
IV. Ausführung der Armenpflege. 
1. Dieselbe bezweckt weniger die reichliche Ver- 
sorgung des Armen als, wo es möglich, die Zu- 
rückführung der Armut in die Lage eines durch 
rechtschaffene Arbeit erworbenen hinreichenden 
eigenen Verdienstes. Es soll also die Lage des 
öffentlich unterstützten Armen im Durchschnitt 
nicht besser sein als jene des mit saurem Schweiß 
sein Brot Verdienenden. In der Tat leitet sich 
die Lebenshaltung der Armenbevölkerung, was 
das Gros der Armen betrifft, mehr oder weniger 
von der Lebenshaltung derjenigen Bevölkerungs- 
klasse her, die ohne Besitztum nur von der Hand 
in den Mund, vom Ertrag einer sog. nicht quali- 
fizierten Arbeit lebt. Damit hängt es zusammen, 
daß in fruchtbaren Gegenden ein Armer bei gleicher 
Dürftigkeit wegen der allgemein höheren Lebens- 
haltung viel mehr kostet als in unfruchtbaren, be- 
sonders Gebirgsgegenden. Bei unverschuldet Ver- 
armten aus den höheren Ständen ist man geneigt, 
eine etwas bessere Behandlung zu proponieren. 
Die Prüfung der Würdigkeit sollte nicht allzu 
ängstlich sein. Der wirklichen Bedrängnis ist, 
auch wenn selbstverschuldet, abzuhelfen. Die 
Kirchenväter warnen vor Rigorismus, denn die 
menschliche Selbstsucht ist der Versuchung aus- 
gesetzt, an jedem Armen Tadelhaftes zu finden, 
um sich der Pflicht der Barmherzigkeit entschlagen 
zu können. — Je nach den verschiedenen Gesichts- 
punkten kann man von einer vorhergehenden und 
nachfolgenden, dauernden und vorübergehenden, 
ländlichen und städtischen, offenen und geschlossenen 
Armenpflege sprechen. Von der Armut vorbeugen- 
Armenpflege. 
  
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den Maßregeln war schon oben die Rede. Daß bei 
gleichbleibender Armenpraxis die vorübergehend 
Unterstützten sich stärker mehren als die dauernd 
Unterstützten, hängt mit der Entwicklung unserer 
Zeit, dem leichteren Transport, dem häufigeren 
Ortswechsel, der größeren Industrieentfaltung, 
dem Entstehen einer stärkeren Schicht besitzloser 
Leute usw. zusammen. — Was den Gegensatz von 
Stadt und Land anbelangt, so kann man in 
den etwas größeren Städten im Vergleich zum 
übrigen Land mindestens die doppelte Zahl dauernd 
unterstützter Armen annehmen. Dies ist um so 
bemerkenswerter, als der Lohn im Verhältnis zum 
Preis der notwendigen Lebensmittel in Städten 
höher ist als auf dem Land. Auch sind in den 
Städten die vollkräftigen Altersklassen, die der 
Armenpflege seltener anheimfallen, ungleich zahl- 
reicher vertreten als in den Landgemeinden. Böh- 
mert bringt jene größere Armenzahl mit der schlech- 
teren physischen Konstitution des Städters und 
mit den vielen Versuchungen zu unnützen Geld- 
ausgaben in Zusammenhang. Der hilfsbedürftige 
Städter wird sich ohne große Skrupel an den un- 
bekannten Beamten der Behörde oder den Armen- 
pfleger wenden, während die Armenpflege auf dem 
platten Land strenger, härter und besser in der 
Lage ist, die Verhältnisse des Bittstellers richtig 
zu beurteilen und die Hilfe richtig abzumessen. 
Überhaupt wirken auf dem Land die „patriarcha- 
lischen Sitten“, die geringeren Ansprüche ans 
Leben, das leichter zu befriedigende Wohnungs- 
bedürfnis, die Möglichkeit, kleinen Grundbesitz zu 
erwerben, die später eintretende Arbeitsunfähig- 
keit der Verarmung entgegen. Die steigenden 
Kosten städtischer Armenpflege erklären sich zum 
Teil auch aus dem stärkeren Anschwellen der 
städtischen, überhaupt gewerblichen Bevölkerung 
im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. 
Geschlossene Armenpflege ist jene, die in 
eigens dazu bestimmten Anstalten, offene Ar- 
menpflege jene, die in der eigenen Behausung des 
Armen erfolgt. Tatsächlich ist letzteres System 
vorwiegend, naturgemäßer und billiger. Die 
Hausarmenpflege schont die Ehre des Armen 
und erhält das Familienleben. Bei der Anstalts- 
pflege ist die Notorietät der Armut größer, da- 
gegen die Gefahr falscher Armenpflege geringer. 
Die Anstaltspflege ist sehr geeignet für solche, die 
ohnehin keine Häuslichkeit haben (Waisen, Greise, 
Witwen, Kranke, ganz Mittellose). Bei der offenen 
Pflege überwiegen die Frauen, bei der geschlossenen 
die Männer. Wo die Verpflegung, wie nament- 
lich bei vielen Erwerbsunfähigen, besondere tech- 
nische Einrichtungen erfordert, wird auf die An- 
staltspflege gegriffen werden müssen (Waisen- 
häuser, Hospitäler, Taubstummenanstalten, Irren- 
häuser usw.). Ein Vorzug der Hausarmenpflege, 
wie sie z. B. in den Vinzentiusvereinen oder in 
der Elberfelder Außenarmenpflege geübt wird, ist 
jene Individualisierung der Arbeit, welche jeder 
Pflegekraft einen möglichst beschränkten Arbeits-
	        
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