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Seit dem 8. Jahrh. wurde den Klöstern zur
strengen Pflicht gemacht, ebenso der Wohltätig-
keit wie auch ernster Arbeit sich zu widmen. Seit
dem 11. Jahrh. wird in der kirchlichen Gesetz-
gebung die Armenpflege nicht mehr besonders ge-
ordnet. Das Gildenwesen umfaßte das ganze
bürgerliche Leben des Mittelalters. In den Ge-
nossenschaften der Freien, mochten sie nun Adels-
korporationen und Gilden städtischer Patrizier
oder Handwerkergilden und Zünfte sein, immer
war die Verpflichtung zu gegenseitiger Unter-
stützung in Not und Krankheit und der Hinter-
lassenen und Waisen ein Hauptzweck der Vereini-
gung. Die verarmten Genossen und Mitglieder
wurden von Rechts wegen, ohne Demütigung,
Bettel und Almosen, vom örtlichen oder beruf-
lichen Verband erhalten. Reichte wirklich der Ge-
meinsinn der Familie oder der Korporation, des
Verbandes usw., dem der Verarmte angehörte,
nicht hin, so blieb ihm noch immer das Almosen
der Klöster oder einzelner Reichen. In wenig
richtiger Weise war für die Wanderbevölkerung
des Mittelalters Fürsorge getroffen: kritikloses
Almosengeben war ihr gegenüber an der Tages-
ordnung, wodurch das Bettelunwesen einen frucht-
baren Nährboden fand. Ortlichen Bedürfnissen,
die sich zu irgend einer Zeit herausstellten, suchte
man durch spezielle Stiftungen abzuhelfen.
Der Inhalt vieler Stiftungen beweist, daß die
christliche Liebe viel erfinderischer und klüger ist
als die theoretischen Grundsätze. Die Wohltäter
erkundigten sich um die Bedürfnisse derjenigen,
für welche sie eine Stiftung machen wollten. Diese
Bedürfnisse suchten sie so direkt als möglich zu be-
friedigen und überließen es nicht dem Gutdünken
der Verwaltungsbehörde, wie die Stiftung aus-
geführt werden soll. Die öffentliche Verteilung
der gestifteten Spenden bildete die Kontrolle.
Man war sicher, daß die Unterstützung nur wirk-
lich Arme bekommen und parteiische Gunst und
Mißgunst vermieden würden. Durch die sonntäg-
liche Verkündigung der Wochenstiftungen erhielten
die Beteiligten, also auch die Armen, von ihren
Rechtsansprüchen Kenntnis. Daß man die Kirchen
zur Verteilung wählte, nicht die Rathäuser oder
andere weltliche Orte, bestätigt den religiösen Cha-
rakter der damaligen Armenpflege. Während die
Heiden den Städten Legate vermacht hatten, aus
deren Zinsen zum Andenken des verstorbenen
Schenkers Spiele gegeben wurden, waren im
Mittelalter mit den Seelenmessen und Anni-
versarien Stiftungen für Speisung der Armen
verbunden. Je sorgsamer der religiöse Charakter
der Armenanstalten gehandhabt wurde, desto besser
war es für die hilflosen Armen, Kranken und
Greise, deren gute Behandlung ja stets weit mehr
von der Gewissenhaftigkeit als von der Kontrolle
abhängt. Als im 13. Jahrh. der wachsende Reich-
tum in der Christenheit Habsucht und Herrschsucht
erzeugte, bekämpften der hl. Franz von Assisi und
seine Schüler den so antisozialen Egoismus durch
Armenpflege.
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ihre Grundsätze und Taten der Einfachheit und
Strenge. Die Armut der Bettelorden gewann
ihnen Liebe und Vertrauen, namentlich der städti-
schen Bevölkerungen. Sie wirkten wohltätig auf
die Tüchtigkeit des Bürgerstands trotz oder wegen
ihrer Geringschätzung der wirtschaftlichen Tätig-
keit. Ihr Beispiel eiferte die Reichen an, den
schmutzigen Eigennutz niederzuhalten; das Bei-
spiel ihrer freiwilligen Armut und Eigentums-
losigkeit erleichterte die Last der gezwungenen
Armut.
Seit dem Ausgang des Mittelalters
ist teils an die Seite teils an die Stelle der kirch-
lichen und Privatarmenpflege mehr und mehr eine
vom Staat geregelte, nötigenfalls erzwungene
Armenpflege getreten. Ganz naturgemäß mußte
mit der Reformation, wo die örtlichen Gemeinden
sich konfessionell spalteten, die Armenpflege immer
mehr auf die bürgerliche Gemeinde übergehen. Es
kamen für die Umgestaltung der Armenpflege aber
noch andere Momente in Betracht. Die zu aus-
gedehnte Mildtätigkeit war durch Müßiggang,
Betrug und Heuchelei mißbraucht worden. Pflicht-
vergessene und Arbeitsscheue hatten sich unter die
Reihen der Erwerbsunfähigen gemischt und so die
obrigkeitliche Zwangsgewalt herausgefordert. Ein-
mal wurde der kirchlichen Armenpflege durch die
im Gefolge der Reformation eintretende Säkulari-
sation des Kirchengutes der wesentliche Boden
entzogen. Anderseits lähmte der Protestantismus,
indem er die katholische Lehre von den guten
Werken aufgab und bekämpfte, die Privatwohl-
tätigkeit und den Stiftungseifer. Es besteht noch
eine Streitfrage über die Priorität, an welcher
Stelle zuerst eine Neuordnung der Armenpflege im
modernen Sinn erfolgt ist, ob in Nürnberg oder
Ypern — jedenfalls ist es Nürnberg. Der Vater
der Yperner Armenordnung, der Humanist Vives,
scheint aber der erste gewesen zu sein, welcher 1525
in einer systematischen Schrift die Kernfragen einer
rationellen Armenpflege erörterte. Man stellte
immer mehr das Prinzip der Individualisierung
und Arbeitsbedingung in den Vordergrund. Früh
tritt die staatliche Armenpflege in England auf.
Dort hatten die Bürgerkriege, die häufige Ent-
lassung arbeitentwöhnter Söldner, der frühe
Untergang des Lehnswesens und der Hörigkeit,
die Umwandlung der gebundenen in „freie“ Ar-
beiter (womit die alte Unterstützungspflicht der
Grundherren gegenüber ihren in Not und Krank-
heit befindlichen Arbeitern erlosch) große Fluk-
tuationen und Notstände der Arbeiter herbeige-
führt. Dies veranlaßte die unter den Tudors
(1486) wieder konsolidierte Monarchie, die Armen-
pflege in die Hand zu nehmen. Diesem Bedürf-
nis konnte England eher genügen als Deutsch-
land, da England schon im 16. Jahrh. einen ge-
ordneten, einheitlichen Staat bildete, während die
Einheit des Reiches in Deutschland durch die seit
dem Zwist zwischen Kaiser und Papst gewachsene
Macht der Fürsten und freien Städte beseitigt