Full text: Staatslexikon. Erster Band: Abandon bis Elsaß-Lothringen. (1)

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3. Auslieferungsverträge. Nach den 
den deutschen Auslieferungsverträgen zugrunde 
liegenden Rechtsanschauungen genießt der Aus- 
länder, welcher sich auf deutsches Gebiet geflüchtet 
hat, an sich den Schutz des Deutschen Reichs; 
Deutschland erachtet sich jedoch nicht für verpflich- 
tet, dem ausländischen Verbrecher auf deutschem 
Boden ein Asyl zu gewähren. Im Interesse der 
Gerechtigkeit und der Strafrechtspflege liefert es 
vielmehr ausländische Verbrecher an auswärtige 
Regierungen auf deren Requisition aus, wenn 
nach dem Auslieferungsbegehren die ausländische 
Begehung eines in den Auslieferungsverträgen 
aufgeführten Verbrechens und die Identität des 
Auszuliefernden mit dem Täter derart erwiesen 
ist, daß dessen Verhaftung und Aburteilung im 
Inland nach den inländischen Gesetzen gerechtfertigt 
sein würde, falls das Verbrechen oder Vergehen im 
Inland begangen wäre. Unter diesen Voraus- 
setzungen sind alle im Reichsgebiet weilenden Aus- 
länder, aber auch nur Ausländer, auszuliefern, 
welche im Ausland wegen einer strafbaren Hand- 
lung im ordentlichen Verfahren verurteilt oder in 
Anklagestand versetzt oder zur gerichtlichen Unter- 
suchung gezogen worden sind. Die Auslieferung 
kann von deutscher Seite an die auswärtige Re- 
gierung aber nur erfolgen, wenn entweder die 
Straftat im Gebiet dieser Regierung begangen 
ist, oder wenn dieselbe, obgleich außerhalb des 
Gebiets des ersuchenden Teils begangen, doch 
nach der Gesetzgebung des ersuchenden Staats 
verfolgt werden kann. Dabei ist gleichgültig, ob 
der Täter Untertan der ersuchenden oder einer 
andern auswärtigen Regierung ist; nur kann, wenn 
die auszuliefernde Person weder Deutscher noch 
Untertan der auswärtigen Regierung ist, der- 
jenige Staat, an welchen ein Auslieferungsantrag 
gerichtet wird, von dem gestellten Antrag diejenige 
Regierung, welcher der Verfolgte als Untertan an- 
gehört, in Kenntnis setzen; und wenn diese Re- 
gierung ihrerseits den Angeschuldigten beansprucht, 
um ihn vor ihr Gericht zu stellen, so kann die- 
jenige Regierung, in deren Gebiet sich der Ver- 
folgte aufhält, diesen nach ihrer Wahl der einen 
oder der andern Regierung ausliefern. Bei auf 
hoher See begangenen Verbrechen entscheidet dar- 
über, ob das Verbrechen im In= oder Ausland 
begangen ist, die Nationalität des Schiffes. Der 
Heimatsstaat kann sich der Auslieferung an die 
Regierung des Tatorts nicht widersetzen. Wird 
eine und dieselbe Person von zweien oder meh- 
reren Staaten wegen verschiedener strafbarer Hand- 
lungen reklamiert, so entscheidet über die Aus- 
lieferung durch Deutschland die Schwere des Ver- 
brechens und bei gleicher Schwere die Priorität, 
durch andere Staaten bald die Priorität bald die 
Schwere, bald zugleich mit der Schwere die grö- 
ßere Leichtigkeit zur Ubergabe der reklamierten 
Person behufs des wider sie in dem einen und 
andern Staat nacheinander einzuleitenden Ver- 
fahrens, oder es wird nach Berücksichtigung der 
Auslieferung. 
  
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Schwere und der Priorität an den Heimatsstaat 
ausgeliefert. Die Auslieferungspflicht erstreckt sich 
auf Täter und Teilnehmer, auf Anstifter und Ge- 
hilfen. Die Auslieferung flüchtiger Verbrecher 
findet nicht statt, wenn dieselben in einem der 
Staaten des Deutschen Reichs wegen derselben 
strafbaren Handlung, wegen welcher die Auslie- 
ferung beantragt wird, in Untersuchung gewesen 
und außer Verfolgung gesetzt worden sind, oder 
sich noch in Untersuchung befinden, oder wenn 
sie wegen derselben Handlung bereits bestraft 
worden sind; sie findet ferner nicht statt, wenn seit 
der begangenen strafbaren Handlung oder seit der 
Einleitung des strafgerichtlichen Verfahrens oder 
seit der erfolgten Verurteilung nach den Gesetzen 
des ersuchten Staats Verjährung der Strafver- 
folgung oder der Strafvollstreckung eingetreten ist. 
Wenn der Auszuliefernde im ersuchten Staat 
wegen einer andern strafbaren Handlung in Unter- 
suchung steht, so soll seine Auslieferung bis zur 
Beendigung dieser Untersuchung und vollendeter 
Vollstreckung der etwa gegen ihn erkannten Strafe 
aufgeschoben werden. Aus politischen Gründen 
ist die Reziprozität der Staaten Voraus- 
setzung der Auslieferung. Amerika und England, 
welche nach ihren Gesetzen die eigenen Unter- 
tanen ausliefern, haben der Reziprozität wegen 
die Auslieferung ihrer eigenen Untertanen in den 
Verträgen für unzulässig erklärt. Nur im spanisch- 
englischen Vertrag hat England die Auslieferung 
eigener Untertanen zugelassen, während Spanien 
seine Untertanen nicht ausliefert. Das Institut de 
droit international hat 1880 in Oxford unter 
der Voraussetzung analoger Grundlagen des 
Strafrechts und des Strafverfahrens sich für die 
Auslieferung eigener Staatsangehörigen ausge- 
sprochen. Da Deutschland die von seinen Reichs- 
angehörigen im Ausland begangenen Delikte be- 
strafen kann und zu bestrafen pflegt, so ist die 
Auslieferung der Deutschen durch die sog. Welt- 
rechtsordnung nicht geboten. 
Die Auslieferung erfolgt nur wegen gemeiner 
Verbrechen und Vergehen, und zwar auch wegen 
Versuchs derselben, vorausgesetzt, daß die voll- 
endete oder versuchte Tat nach den inländischen 
Gesetzen und den Gesetzen des Tatorts strafbar 
ist. Die strafbaren Handlungen, durch welche die 
Auslieferungspflicht begründet wird, sind in den 
von Deutschland abgeschlossenen Verträgen einzeln 
aufgeführt. Es sind nicht in allen Verträgen die- 
selben. Von und nach Nordamerika wird nur aus- 
geliefert wegen Mordes, Raubes, Seeraubes, 
Brandstiftung, Fälschung, Ausgeben falscher Do- 
kumente, Falschmünzerei und Unterschlagung öffent- 
licher Gelder. Nach und von England wird wegen 
dieser Verbrechen und außerdem wegen Totschlags, 
Meineids, Notzucht, Entführung und Kinderraubs, 
Diebstahls und Unterschlagung, Erpressung, Be- 
trugs und Untreue, Urkundenfälschung, betrü- 
gerischen Bankrotts und einzelner auf einem Schiff 
auf hoher See begangener Delikte ausgeliefert. In
	        
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