445
3. Auslieferungsverträge. Nach den
den deutschen Auslieferungsverträgen zugrunde
liegenden Rechtsanschauungen genießt der Aus-
länder, welcher sich auf deutsches Gebiet geflüchtet
hat, an sich den Schutz des Deutschen Reichs;
Deutschland erachtet sich jedoch nicht für verpflich-
tet, dem ausländischen Verbrecher auf deutschem
Boden ein Asyl zu gewähren. Im Interesse der
Gerechtigkeit und der Strafrechtspflege liefert es
vielmehr ausländische Verbrecher an auswärtige
Regierungen auf deren Requisition aus, wenn
nach dem Auslieferungsbegehren die ausländische
Begehung eines in den Auslieferungsverträgen
aufgeführten Verbrechens und die Identität des
Auszuliefernden mit dem Täter derart erwiesen
ist, daß dessen Verhaftung und Aburteilung im
Inland nach den inländischen Gesetzen gerechtfertigt
sein würde, falls das Verbrechen oder Vergehen im
Inland begangen wäre. Unter diesen Voraus-
setzungen sind alle im Reichsgebiet weilenden Aus-
länder, aber auch nur Ausländer, auszuliefern,
welche im Ausland wegen einer strafbaren Hand-
lung im ordentlichen Verfahren verurteilt oder in
Anklagestand versetzt oder zur gerichtlichen Unter-
suchung gezogen worden sind. Die Auslieferung
kann von deutscher Seite an die auswärtige Re-
gierung aber nur erfolgen, wenn entweder die
Straftat im Gebiet dieser Regierung begangen
ist, oder wenn dieselbe, obgleich außerhalb des
Gebiets des ersuchenden Teils begangen, doch
nach der Gesetzgebung des ersuchenden Staats
verfolgt werden kann. Dabei ist gleichgültig, ob
der Täter Untertan der ersuchenden oder einer
andern auswärtigen Regierung ist; nur kann, wenn
die auszuliefernde Person weder Deutscher noch
Untertan der auswärtigen Regierung ist, der-
jenige Staat, an welchen ein Auslieferungsantrag
gerichtet wird, von dem gestellten Antrag diejenige
Regierung, welcher der Verfolgte als Untertan an-
gehört, in Kenntnis setzen; und wenn diese Re-
gierung ihrerseits den Angeschuldigten beansprucht,
um ihn vor ihr Gericht zu stellen, so kann die-
jenige Regierung, in deren Gebiet sich der Ver-
folgte aufhält, diesen nach ihrer Wahl der einen
oder der andern Regierung ausliefern. Bei auf
hoher See begangenen Verbrechen entscheidet dar-
über, ob das Verbrechen im In= oder Ausland
begangen ist, die Nationalität des Schiffes. Der
Heimatsstaat kann sich der Auslieferung an die
Regierung des Tatorts nicht widersetzen. Wird
eine und dieselbe Person von zweien oder meh-
reren Staaten wegen verschiedener strafbarer Hand-
lungen reklamiert, so entscheidet über die Aus-
lieferung durch Deutschland die Schwere des Ver-
brechens und bei gleicher Schwere die Priorität,
durch andere Staaten bald die Priorität bald die
Schwere, bald zugleich mit der Schwere die grö-
ßere Leichtigkeit zur Ubergabe der reklamierten
Person behufs des wider sie in dem einen und
andern Staat nacheinander einzuleitenden Ver-
fahrens, oder es wird nach Berücksichtigung der
Auslieferung.
446
Schwere und der Priorität an den Heimatsstaat
ausgeliefert. Die Auslieferungspflicht erstreckt sich
auf Täter und Teilnehmer, auf Anstifter und Ge-
hilfen. Die Auslieferung flüchtiger Verbrecher
findet nicht statt, wenn dieselben in einem der
Staaten des Deutschen Reichs wegen derselben
strafbaren Handlung, wegen welcher die Auslie-
ferung beantragt wird, in Untersuchung gewesen
und außer Verfolgung gesetzt worden sind, oder
sich noch in Untersuchung befinden, oder wenn
sie wegen derselben Handlung bereits bestraft
worden sind; sie findet ferner nicht statt, wenn seit
der begangenen strafbaren Handlung oder seit der
Einleitung des strafgerichtlichen Verfahrens oder
seit der erfolgten Verurteilung nach den Gesetzen
des ersuchten Staats Verjährung der Strafver-
folgung oder der Strafvollstreckung eingetreten ist.
Wenn der Auszuliefernde im ersuchten Staat
wegen einer andern strafbaren Handlung in Unter-
suchung steht, so soll seine Auslieferung bis zur
Beendigung dieser Untersuchung und vollendeter
Vollstreckung der etwa gegen ihn erkannten Strafe
aufgeschoben werden. Aus politischen Gründen
ist die Reziprozität der Staaten Voraus-
setzung der Auslieferung. Amerika und England,
welche nach ihren Gesetzen die eigenen Unter-
tanen ausliefern, haben der Reziprozität wegen
die Auslieferung ihrer eigenen Untertanen in den
Verträgen für unzulässig erklärt. Nur im spanisch-
englischen Vertrag hat England die Auslieferung
eigener Untertanen zugelassen, während Spanien
seine Untertanen nicht ausliefert. Das Institut de
droit international hat 1880 in Oxford unter
der Voraussetzung analoger Grundlagen des
Strafrechts und des Strafverfahrens sich für die
Auslieferung eigener Staatsangehörigen ausge-
sprochen. Da Deutschland die von seinen Reichs-
angehörigen im Ausland begangenen Delikte be-
strafen kann und zu bestrafen pflegt, so ist die
Auslieferung der Deutschen durch die sog. Welt-
rechtsordnung nicht geboten.
Die Auslieferung erfolgt nur wegen gemeiner
Verbrechen und Vergehen, und zwar auch wegen
Versuchs derselben, vorausgesetzt, daß die voll-
endete oder versuchte Tat nach den inländischen
Gesetzen und den Gesetzen des Tatorts strafbar
ist. Die strafbaren Handlungen, durch welche die
Auslieferungspflicht begründet wird, sind in den
von Deutschland abgeschlossenen Verträgen einzeln
aufgeführt. Es sind nicht in allen Verträgen die-
selben. Von und nach Nordamerika wird nur aus-
geliefert wegen Mordes, Raubes, Seeraubes,
Brandstiftung, Fälschung, Ausgeben falscher Do-
kumente, Falschmünzerei und Unterschlagung öffent-
licher Gelder. Nach und von England wird wegen
dieser Verbrechen und außerdem wegen Totschlags,
Meineids, Notzucht, Entführung und Kinderraubs,
Diebstahls und Unterschlagung, Erpressung, Be-
trugs und Untreue, Urkundenfälschung, betrü-
gerischen Bankrotts und einzelner auf einem Schiff
auf hoher See begangener Delikte ausgeliefert. In